Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 3

Kapitel 3: Philosophieunterricht

Das Haar, 1.

Noemi kritzelte einen Entwurf für ihr neues Bühnenoutfit auf
die Rückseite eines hochphilosophischen Textes, den sie nicht gelesen hatte und auch niemals lesen würde. Aus dem Restpostenladen hatte sie ein pinkes Netz, das zusammen mit ihrem gerüschten Minirock hervorragend aussehen würde. Ihre weiße Bluse, die zwar eigentlich nur für Auftritte auf Geburtstagen von alten, verstaubten Verwandten gedacht war, passte ebenfalls. Perfekt. Sie lächelte zufrieden und setzte den Stift ab.

Ihr Blick fiel zufällig auf den Platz vor ihr. Die Neue erfüllte ihren Zweck; Herr Dr. Breitner konnte sie nicht mehr richtig sehen, was Noemi sehr bedauerte. Sie hatte ein Haar auf dem Rücken, das in ihrer Wollstrickjacke hängen geblieben war. Noemi streckte eine Hand aus. Die Neue saß zu weit weg. Es gab niemand sonst in der Klasse, der so nah am Tisch saß.
Noemi war der festen Überzeugung, dass sie sogar zuhörte. Noemi streckte ihre Hand wieder aus und rückte so nah an den Tisch, wie es ging. Sie war noch immer unerreichbar. Noemi pustete resigniert gegen ihren Pony und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen.

Das Haar störte sie, wie es da hing und eigentlich auf den Boden fallen sollte… wer trug überhaupt noch Wollsachen? In grau?

Das Haar, 2.

Noemi sah kurz an die Tafel und konnte das Wort Rousseau lesen. Das war ja der gleiche Typ wie letztes Mal. Der Rest des Textes verschwamm, weil Brillen echt wahnsinnig uncool waren. Und Kontaktlinsen  widersprachen den Prinzipien ihrer Mutter.

Sie seufzte. Langeweile. Laaangeweile. Das Haar klebte noch immer an der Stickjacke. Noemi sah kurz nach rechts und links. Niemand, der ihr
zulächelte. Sollten sie doch Rousseau zulächeln, der war tot und würde nicht mal zurückgucken.

Sie hielt die Luft an und beugte sich nach vorn. Keine Chance. Das Haar war nicht zu erreichen. Sie schob vorsichtig ihren Stuhl zurück. Er kratzte entschieden zu laut auf dem grünen PVC-Boden. Sie legte sich über den Tisch. Noch ein Stück. Sie drückte sich mit den Zehenspitzen ab. Noch
ein kleines Stückchen. Der Tisch kippte nach vorn und Noemis Muskeln
versteiften sich. Glück gehabt. Aber das Kippeln könnte ihr helfen… sie
drückte sich ein weiteres Mal ab. Fast! Noch ein bisschen mehr.

Katastrophe

Ein fürchterliches Poltern, gefolgt von einem Schmerz in ihrem Rücken ließ Agnes aufschrecken. Sie sog zischend die Luft ein und drehte sich um. Ihr Brustkorb, wo der Schlag sie getroffen hatte, pochte. Hinter ihr
lag auf dem Boden, auf ihrem umgedrehten Tisch, die Gerüschte aus dem Flur. Sie hielt sich die Stirn und setzte sich, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.

„Aua…“ stieß sie aus.

„Noemi Berens!!“ Die Gerüschte fuhr zusammen und zischte
etwas Unnettes. „Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es laut!“

„Äh, ja… ähm, die da hat ein Haar auf ihrer Strickjacke!“

Herr Dr. Breitner schwieg einen Moment und es schien, als wünsche er sich sehr weit weg.

„Noemi, kommen Sie bitte nach der Stunde zu mir. Ich werde Ihnen eine Mitteilung für Ihre Mutter mitgeben.“

Es geschah ihr eigentlich recht, immerhin hatte sie den
Unterricht gestört. Aber irgendwie tat Noemi Agnes leid, wie sie da so saß und theatralisch schluchzte.

Kai, der Junge, der neben ihr saß, kicherte und stellte ihren Tisch wieder hin. „Jetzt hör auf, Noemi. Du weißt doch, dass wir dich lieben…“


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.

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