Sie hatte nicht erwartet, Manuela jemals wiederzusehen. Als sie das Stift verließ, war das Mädchen 14 Jahre alt und tief verstört. Es schmerzte sie, dass auch sie sie allein lassen musste. Denn das war Manuela.
Allein. Verlassen erst von der Mutter und dann von sich selbst. Und schließlich auch noch von ihr. Aber mussten sie nicht alle früher oder später eine schmerzliche Erfahrung machen, um sich selbst zu finden? Um herauszubekommen, was der ganz persönliche Grund war, am Leben zu bleiben? Jedenfalls hätte Elisabeth Manuela daran gehindert, diesen Grund zu finden. Das Mädchen war so auf sie fixiert gewesen, dass es
nicht mehr sich selbst gesehen hatte, nicht mehr ihre eigene Persönlichkeit entwickelt hätte, sondern nur noch für Elisabeth gelebt hatte.
Doch Elisabeth hätte lügen müssen, um sagen zu können, dass sie das Stift leichten Herzens verlassen hatte, denn auch wenn sie nicht sagen konnte, wie, wo und wann, so hatte das Mädchen doch etwas in ihr berührt. Und dieses Etwas hatte dafür gesorgt, dass auch Manuela für Elisabeth mehr wurde als eine Schülerin, sogar eine besondere. Manuela war für Elisabeth zu einer Freundin geworden. Eine merkwürdige Freundschaft war das gewesen und bist heute konnte Elisabeth nicht die richtigen Worte dafür finden.
All das und noch viel mehr schoss ihr in den ersten Sekunden nachdem der Vorhang sich geöffnet hatte durch den Kopf. Elisabeth war einer Einladung der Prinzessin gefolgt, die sie gebeten hatte, an den Festlichkeiten zu ihrem Geburtstag teilzunehmen. Und natürlich konnte sie eine persönliche Einladung der Prinzessin nicht ausschlagen. Deshalb war sie hier. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie all die Menschen aus ihrem früheren Leben, vor und während sie im Stift gearbeitet hatte, nie wieder gesehen. Dass sie jedoch ausgerechnet Manuela wiedersehen würde, hatte sie nicht vorausgesehen.
Oft hatte sie sich gefragt, was wohl aus Manuela geworden war. Ob sie sich der Norm gebeugt und geheiratet hatte oder ob sie vielleicht wie sie den Weg zurück ins Stift gewählt hatte, um der Ehe zu entgehen. Sie
hatte eine dritte Möglichkeit außer Acht gelassen. Manuela sah gut aus, das musste sie zugeben. Man sah ihr an, dass die Bühne des königlichen Hoftheaters genau ihr Element war und dass Manuela glücklich war. Ob sie auch in ihrem sonstigen Leben glücklich war? Ob sie jemanden an ihrer Seite hatte, der sie glücklich machte? Ihr Halt gab, sie inspirierte? Sie liebte. Der Gedanke versetzte Elisabeth einen Stich, für den sie sich sofort schuldig fühlte. Sie wünschte dem Mädchen – der jungen Frau – dort oben auf der Bühne von ganzem Herzen, dass sie ihren Weg gefunden und den Mut gehabt hatte, ihn zu gehen. Sie fragte sich, ob Manuela sie wohl sehen könnte, wenn sie während der Vorstellung
hinaus in den Zuschauerraum blickte? Sie bezweifelte es. Und vermutlich war das besser so, denn Elisabeth konnte sich vorstellen, was es für eine Überraschung sein würde. Vermutlich wäre es nicht sehr gut für Manuelas Schauspielkarriere, mitten in der Vorstellung zum Geburtstag der Prinzessin die Verfassung zu verlieren, weil sie die Lehrerin wiedererkannte, in die sie als Mädchen verliebt gewesen war.
Nichtsdestotrotz wünschte sich ein kleiner Teil von Elisabeth, das genau das geschah.
Der Rest der Vorstellung verging wie im Flug. Sie musste zugeben, dass
Manuela noch besser geworden war. Nicht nur das Talent des Mädchens sorgte dafür, dass sie von der Darstellung gefesselt war. Als die Vorstellung vorüber war, stellte Elisabeth überrascht fest, dass sie kaum etwas anderes als das Mädchen wahrgenommen hatte – nicht einmal die Handlung des Stückes, nicht die Darstellung der anderen Schauspieler. Manuela hatte sie gefangen genommen und zum ersten Mal konnte sich Elisabeth vorstellen, wie es Manuela in ihrem Unterricht gegangen war. So versunken war sie in die Gedanken an Manuela, dass es beinah versäumt hätte, in einen Hofknicks zu sinken, als die Prinzessin sich
ihr näherte. Gerade rechtzeitig gelang es ihr, sich zu sammeln. Als die
Prinzessin sich ihr näherte, knickste sie tief. Die Prinzessin lächelte und
reichte ihr die Hand.
„Fräulein von Bernburg. Was für eine Freude, Sie zu sehen!“
„Die Freude ist ganz meinerseits, königliche Hoheit! Ich
gratuliere Ihnen!“
Die Prinzessin lächelte. „Sagen Sie, meine Liebe, wie geht
es Ihnen?“
„Danke gut, königliche Hoheit!“ Sie zögerte. Es war ihr bewusst, dass das, was sie fragen wollte, vielleicht als unpassend gelten würde. „Sagen Sie königliche Hoheit. Die Schauspielerin ist eine ehemalige Schülerin von mir. Wäre es möglich, ihr kurz ‚Hallo‘ zu sagen?“
Zu ihrer Erleichterung lächelte die Prinzessin. „Gern. Sie ist ausgesprochen gut nicht wahr? Wir sind sehr glücklich, sie hier zu haben!
Ich werde veranlassen, dass man Sie zu ihr bringt!“
Elisabeth fühlte ihre Knie weich werden. Plötzlich fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt. So unsicher hatte sie sich zuletzt mit 17 Jahren gefühlt. „Ich danke Ihnen sehr, königliche Hoheit!“
Die Prinzessin nickte Elisabeth noch einmal zu und machte sich auf, den nächsten Gast zu begrüßen. Etwas verloren stand Elisabeth in der Menge.
Kurz darauf, näherte sich ein Dienstbote der Prinzessin und bedeutet ihr, ihm zu folgen. Vor einer rotgestrichenen Holztür blieb er stehen und verbeugte sich leicht. Elisabeth klopfte.
„Herein?“ tönte es von innen. Elisabeth gab dem Boten zu verstehen, dass er gehen sollte. Als Elisabeth die Tür öffnete, hörte sie noch seine Schritte am Ende des Ganges. Er ließ die beiden allein. Manuela und Fräulein von Bernburg.
Diese Fanficition wurde eingereicht von Xiotonks.