Kapitel 8: Die Hölle bricht los
Theater
Noemi seufzte. Sie seufzte noch einmal und hielt nach Kai Ausschau, der wie immer auf sich warten ließ.
Ihr Tag war schon gelaufen, bevor er überhaupt begonnen hatte. Ihr Lehrer würde sie vor der ganzen Klasse bloßstellen, und das einzige, was ihren Tag retten würde, wäre, wenn aus seiner dicken, ekelhaften Warze eine kleine Larve schlüpfen würde. Das war aber sehr unwahrscheinlich, und deshalb dachte sie schon jetzt nach, wie sie am besten für immer verschwinden konnte.
Ihrer Mutter würde sie einfach einen Zettel mir den Worten „Komme gleich wieder! Gruß, Tochter.“ hinterlassen, das würde sie locker zwei, drei Jahre beschäftigen, bis sie merkte, dass Noemi weg war.
Kai würde sie vielleicht ab und zu ein paar Ansichtskarten aus der ganzen Welt schicken, damit er sich keine Sorgen machte.
Die Freunde vom Cosplay würden auch erst merken, dass sie nicht mehr da war, wenn ihnen keiner mehr die Kleidung nähte, und in der Schule… na ja, die wäre doch wirklich langweilig ohne sie.
Sie konnte ja fast nicht zulassen, dass ihre Schulkameraden verrotteten, und, bei der Vorstellung, an ihrem Tod durch exzessive Langeweile schuldig zu sein, kamen ihr tatsächlich die Tränen.
„Noemi? Weinst du etwa?“ Seine Stimme klang besorgt, aber auch ein wenig belustigt. Er hatte wahrscheinlich an ihrem Gesichtsausdruck bemerkt, dass sie in ihren Visionen einer tristen und düsteren Zukunft aufgegangen war.
„Ach Kai!“ Sie warf sich theatralisch an seine Brust und schluchzte lautstark.
„Ist wohl nicht gut gelaufen gestern, oder?“ fragte er vorsichtig, und ein heftiger Schluchzer verriet, dass Noemi sich zum wiederholten Male aufgegeben hatte.
„Heißt das, ich kriege jetzt Postkarten aus allen Ländern der Welt?“ schmunzelte er, und ein Grunzen, das wohl eigentlich ein mit Nasehochziehen kombiniertes, weiteres Schluchzen war, löste in ihm ein klein wenig Mitleid aus.
„Komm, erzähl erstmal, was passiert ist,“ ermunterte er die schluchzende Noemi. „Vielleicht können wir es ja noch retten?“
Kontakt zu anderen
Agnes hatte die Szene vom Klassenfenster aus beobachtet. Sie konnte nicht hören, was Noemi sagte, aber sie weinte. Es musste etwas sehr schlimmes passiert sein.
„Mach dir keine Sorgen,“ lachte ein pummeliges Mädchen hinter ihr. Es trug eine Brille mit breitem Gestell und blauen Lidschatten. „Sie weint öfter mal. Sie will bloß Aufmerksamkeit,“ erklärte es. „Ich bin übrigens Silvia,“ stellte sie sich vor. „Stellvertretende Klassensprecherin und Vorsitzende des Organisationsvereins der Oberstufe,“ fügte sie gewichtig hinzu.
„Hallo, ich bin Agnes.“ Sie war erleichtert, das jemand mit ihr sprach. Nach einem weiteren, mitleidigen Blick auf die inzwischen am Boden zusammengekauerte Noemi wendete sie den Blick ab und setzte sich auf ihren Platz. Sie nahm ihr Deutschheft heraus und ging in Gedanken nochmal die Gedichte durch, die sie gelernt hatte. Lyrik war eines ihrer favorisierten Fächer; darin konnte man aufgehen und sich richtig wohlfühlen, und manchmal fand man sich sogar wieder in dem ein oder anderen Gedicht.
Herr Dr. Breitner, der außer Philosophie auch deutsch unterrichtete, betrat die Klasse. „Agnes Wendt, ich würde Sie gerne sprechen nach der Stunde. Alle anderen: Bücher aufschlagen, lesen, ruhig sein. Wen ich was höre, der kann schreiben, was er gerade sagen wollte. Bis zum Ende der Stunde,“ und mit diesen Worten ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. „Kinder, ich hatte eine böse Nacht. Bitte verschont mich heute mit euren Mätzchen,“ und auf die Sekunde genau passend stand die verheulte Noemi in der Tür.
Durchschaut
Noemis Atem stockte. Er war nie pünktlich. Niemals. Wieso heute? Sie hatte sich ganz still in eine Ecke setzen wollen, erst recht, nachdem auch Kai ihr bestätigt hatte, dass sie ganz schön tief in der Sch…Tinte saß.
„Ah, wen haben wir denn da… Kai Ahrgonn, zu spät, nachsitzen, morgen nach der Schule. Noemi Berens, nachsitzen, ab morgen bis zum Ende des Schuljahrs… und sagen Sie jetzt nicht, dass sei ungerecht. Sonst werde ich Ihre Mutter anrufen. Die Echte,“ fügte er hinzu und sah sie scharf an.
So blass war sie noch nie gewesen. Sie zitterte. Sie hatte noch nie Ärger gehabt, nicht so richtig. Und wenn ihre Mutter davon etwas mitbekäme… dann wäre zu Hause wohl die Hölle los.
„Kai, kann ich noch ein bisschen länger bei dir wohnen?“ flüsterte sie, doch bevor Kai antworten konnte, platzte ihrem Lehrer endgültig der Kragen und er begann sie anzuschreien, womit er die gesamte Stunde, mit wenigen Unterbrechungen um sich zu räuspern oder einen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu trinken, nicht mehr aufhören würde.
Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.
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