Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 9

Kapitel 9: Brief

Pause

Agnes beobachtete Noemi schon den ganzen Tag. Sie sah wirklich niedergeschlagen aus, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Sie war sich nicht sicher, ob das nur ein Trick war, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber wenn, dann hatte er funktioniert. Agnes konnte ihren Blick ohnehin nicht von den vielen Rüschen und ihren lackierten Fingernägeln abwenden.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken, und es fiel ihr ein, dass sie ihrem Vater hatte schreiben wollen. Sie suchte sich ihren Füller mit der schwarzen Tinte aus dem Mäppchen und verließ den Klassenraum, um sich in der Pause in die Sonne zu setzen.

Brief an Papa

Lieber Papa, schrieb sie, wie geht es dir? Ich weiß, dass ich mich lange nicht mehr gemeldet habe, aber… tut mir leid! Der Umzug hat mich ziemlich geschafft, wir sind schon wieder umgezogen. Bald hab ich keine Lust mehr… ich würde viel lieber zu dir in unser altes Haus zurückziehen, aber das geht wohl nicht. Vielleicht hat auch deine neue Tochter schon mein Zimmer in Beschlag genommen, und deine neue Frau wohnt mit dir im Schlafzimmer. Aber ich hoffe, dass du mich noch nicht vergessen hast! Ich denke jedenfalls sehr oft an dich.

Meine Mutter dreht total ab, seit wir weg sind. Ich glaube, sie vermisst dich auch. Sie hat es sicher nicht so gemeint, als ihr gestritten habt. Ich glaube, sie hätte dich gerne zurück. Aber… ich weiß, das geht nicht, was geschehen ist, ist geschehen. Hast du nachgesehen, wann ich dich mal besuchen kann? Ich würde mich freuen.
Die neue Schule ist eigentlich ganz okay, aber ich glaube nicht, dass ich meine Klasse mag. Die sind alle irgendwie komisch, vor allem ein Mädchen, das Noemi heißt. Sie trägt schwarz-pinke Rüschenröckchen und benimmt sich wie eins von diesen Comicmädchen aus Japan. Sie sieht auch ein bisschen wie eins von ihnen aus.
Meld dich doch mal. Meine Handynummer hast du ja!
Ich hab dich lieb!
Agnes.

Wie ein Tiger

Sie setzte ab, und wie auf die Minute genau ertönte der Schulgong, der den Beginn der nächsten Stunde ankündigte. Auf dem Weg ins Gebäude lief sie nur zwei Meter hinter Noemi her, die mit hängenden Gliedern die Treppen hochstapfte.
„Hast du was?“ fragte Agnes und schloss mit ihr auf.
„Nein,“ fauchte Noemi und zuckte mit den Schultern. „Spiel nicht den gütigen Sanitäter, okay?“
„Den barmherzigen Samariter? Wollte ich doch gar nicht,“ entschuldigte Agnes sich schnell.
„Dann tu es auch nicht, Klugscheißer. Du bist neu, dann benimm dich auch so. Sei leise und warte auf deinen Einsatz.“

Agnes blieb verblüfft stehen. Sie hätte nicht gedacht, dass jemand so gemein wäre zu ihr, nur, weil sie nett sein wollte.

Hinter der nächsten Ecke blieb Noemi stehen. Sie war eigentlich wütend auf sich selbst. Und dann hatte sie auf einmal dieses neue Mädchen angeschrien. Sie wollte sich entschuldigen, aber als sie um die Ecke linste, war sie weg. Vielleicht war es ja bei ihr nicht so angekommen. War ja auch nicht so gemeint. Noemi war nett. Eigentlich. Total nett. Und liebenswert. Konnte sie ja nichts dafür, dass alle so gemein zu ihr waren.


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.

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