Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 16

Kapitel 16: Andere Sorgen

Tanja

Kai wusste nicht, was er machen sollte. Seit zwei Stunden lief er durch die Schuhläden der Stadt, aber in keinem hatte man Noemi gesehen. Und sie fiel immer auf, meistens, weil sie aufgrund ihres Äußeren für einen Dieb gehalten wurde. Er hatte es nicht geplant, und eigentlich wollte er sie nicht rausschmeißen. Aber gestern hatte Tanja herausgefunden, dass er mit einer anderen Frau zusammenwohnte. Eigentlich war sie nicht besonders eifersüchtig, und auch ziemlich tolerant, aber bei Noemi hörte der Spaß auf. „Sie läuft die ganze Zeit in Netzstrümpfen rum, und ihr haltet Händchen“, hatte sie geschluchzt, „ich will doch die Einzige für dich sein“, ging es weiter, und schließlich endete das Drama in einem großen „Wenn sie, dann ich nicht“ – Finale.

Es lief gerade so gut, und neben Noemi war Tanja die erste Frau, mit der er sich wirklich etwas vorstellen konnte. Sie nicht nur über Nacht blieb, sondern auch Frühstück bekam. Er wollte das nicht aufgeben, nur weil Noemi nicht mit ihrer Mutter klar kam.

„Mailbox“, seufzte er, als er zum dritten Mal Noemis Nummer gewählt hatte. Er gab auf. Irgendwann war auch bei ihm eine Grenze erreicht, und zwar genau jetzt.

„Tanja, Liebes“, säuselte er in sein Handy. „Warte an der Schule, ich komme dich abholen!“ Er sah an sich herunter. Sah akzeptabel aus. Die Linie 249 fuhr gerade über die Kreuzung, als er an der Bushaltestelle ankam. Perfekt. Und wie schnell er selbst die Sorgen um Noemi vergessen konnte, zeigte sich, als er fünfzehn Minuten später vor dem Schultor der St.-Joseph-Schule stand, und seine wunderschöne Freundin in die Arme nahm.

Auf zum Arzt

Agnes wartete am Beckenrand darauf, dass ihr quietschfideler Bruder endlich aus dem Wasser kommen würde. Er hatte wirklich nicht ins Becken gemacht diesmal, weshalb sie sich überlegt hatte, ihn nachher mit einem Eis zu belohnen. Natürlich ohne, dass ihre Mama davon etwas mitbekam, denn Eis gab es nur sonntags bei Familie Wendt.

„Martin, nun komm endlich!“, rief sie. „Du bist ja schon ganz schrumpelig!“ Sie lächelte ihm zu, obwohl ihr eigentlich eher zum Weinen war. Sie war nun offiziell für etwas geoutet, dass sie gar nicht war. Und nur, weil sie noch nie einen Freund gehabt hatte, hieß das ja nicht, dass sie gleich auf Frauen… „Agi! Agi, ich glaub mein Fuß ist kaputt!“, holte ihr kleiner Bruder sie in die Realität zurück. An seinem Knöchel zeichnete sich ein dunkler, blauer Fleck ab. „Und es tut auch ganz weh!“, wimmerte er. Über sein nasses Gesicht liefen ihm Tränen. „Ich bin nur hingefallen, da vorne“, heulte er, „und dann hat es ganz doll geknackt!“

Agnes nahm ihn auf den Arm. „Wir gehen am besten zum Arzt“, erklärte sie. Es sah wirklich nach einem Bruch aus. Vielleicht war es auch nur eine Prellung oder eine Zerrung, aber sie ging vom Schlimmsten aus. „Martin, es ist alles ok, der Arzt macht ihn wieder heile.“ Sie strich ihm über den Kopf, als sie ihm in seine Sachen half. Zum Schluss hüllte sie ihn in ihren Mantel und trug ihn nach draußen. Was sollte sie machen? Mit dem Bus fahren konnte sie vergessen, denn auch wenn Martin erst vier war, war er auf Dauer doch schwer, vor allem mit seinen Schwimmsachen, und, weil er noch immer weinte und sich unter Schmerzen wand. „Martin, jetzt halt mal still“, befahl sie ihm, und erreichte das genaue Gegenteil. Resigniert setzte sie sich in die Bushaltestelle. „Ich rufe Mama an“, erklärte sie, und hoffte, ihn dadurch beruhigen zu können. Aber der kleine Junge weinte nur immer mehr, und schrie. „Mein Fuß ist kaputt, Agi, aua, mein Fuß tut so weh“, jammerte er. Die Leute auf der anderen Straßenseite drehten sich bereits nach ihnen um. Ein älterer Herr, der wohl auch auf den Bus wartete, musterte Agnes kritisch. „Da hätteste wohl nich‘ so früh Mutter werden sollen, wa?!“ lachte er, und sein Husten enttarnte ihn als jahrelangen Raucher. „Selbst schuld, wa?! Und jetz‘ haste das Blag am Hals, wa, und keene Ahnung wasde machen musst!“

Agnes blickte betreten zu Boden. „Er hat sich den Fuß verletzt, und ich bin seine Schwester“, sagte sie, aber ihre Stimme blieb weg, und es war nur ein heiseres Raunen zu hören. Den Mann schien ihre Rechtfertigung ohnehin nicht zu interessieren. Er stieg in die Linie 249 ein, die soeben angekommen war, und Agnes wählte die Nummer ihrer Mutter.


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.

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