Das Mädchen, welches die Farbe Orange trug

Judy

Es regnete. Kleine, feine Tropfen. Sie tanzten in den Blättern der Bäume, umarmten schmale Grashalmen, klopften zart an Fensterscheiben und fielen fast hüpfend zu Boden. Auch in Judys Haaren klebten sie. Sie klebten nicht direkt, sondern zierten eher das schwarze kurze Haar, welches durch das Haar Gel wirr in alle Richtungen abstand. Manche Regentropfen sammelten sich auch in der Kapuze ihres schwarzen Pullis. Judy lief über den nassen Weg, der nun leicht rutschig war. Ihre Schritte waren jedoch sicher. Fest und rasch ging sie, als hätte sie es eilig. Wer Judy allerdings kannte, der wusste genau, dass sie es nie eilig hatte. Nichts brachte Judy dazu es eilig zu haben, denn sie hatte nichts wofür es sich zu eilen lohnte. Weder eine Familie, die sehnsüchtig auf sie wartete und sich sorgte, wenn sie sich verspätete noch gar ein wirkliches Zuhause. Diese Erkenntnis, die Judy sich immer wieder vor Augen führen musste war schmerzhaft, jedoch nicht so sehr, dass sie es jemals wagen würde ihren Kummer in Alkohol und Drogen zu ertränken. Sie würde nicht das tun, was viele verlorene Seelen taten, nicht das tun, was ihre Mutter getan hatte. Judy lachte bitter auf. Eher die Frau, die sie ausgetragen hatte. Die Frau, die niemals Judys Mutter werden würde. Judy war nur ein Kind von Vielen, das Ergebnis eines ungeplanten Ereignisses unter Alkoholkonsum, wenn man es mal nett ausdrückte.
Judy blieb stehen, einmal um nochmal die feuchte Luft einzuatmen und um noch ein paar Regentropfen einzufangen, dann betrat sie Ed’s Laden. Es war nicht direkt ein Laden und Ed hieß in Wirklichkeit auch nicht Ed, sondern Erich-Dominik, was er aber untragbar und als Piercer und Tätowierer viel zu peinlich fand. In dem Tattoo-Studio war es warm und das Licht war etwas gedämpft. Ed war gerade mit einem Kunden beschäftigt, Maxi und Pi ebenfalls, weshalb Judy einfach hinter dem Tresen vorbei marschierte und sich ein Glas Wasser aus der Küche holte. Sie setzte sich in einen breiten Ledersessel und nippte an ihrem Wasser. Ihr Blick huschte über die vielen Zeichnungen und Motive, die Ed zu Papier gebracht hatte. Einige waren auch von Pi, aber man erkannte genau Ed’s Stil, seine Vorliebe zur Alternative und einer kleinen Prise Verrücktheit. Judy liebte es. Aber auch Pi sollte man nicht unterschätzen, jedoch lernte sie noch.   „ Na, hast du dich mal wieder rein geschlichen und was aus der Küche stibitzt?“. Judy musste nicht aufstehen und sich umdrehen, um zu wissen, wer da mit ihr gesprochen hatte. Sie würde Ed’s kehlige Stimme überall erkennen.  „ Nur ein Glas Wasser!“, versicherte Judy ihm. Ed klopfte ihr auf die Schulter und ließ sich in den anderen Ledersessel plumpsen. „ Magst du nicht lieber eine Cola?“. Ed pfriemelte an seinem linken Ohrpiercing herum. „ Zu süß!“, sagte Judy knapp. „ Du bist komisch!“. „ Und du nicht?“, fragte Judy zurück. Beide lachten. „ Hast du heute noch viele Termine, Ed?“. Er zuckte mit den Schultern. „ Es geht! Wieso? Willst du ein Piercing?“. Judy lachte. „ Nur so“. Judy nippte weiter an ihrem Wasser. Ein Schweigen breitete sich aus. „What’s going on?“.  Pi polterte herein. Judy musste schmunzeln. Wie lässt sich Pi bloß am besten beschreiben? Knalliges, pinkes Haar, welches sie immer zu verrückten Zöpfen geflochten hatte. Schlank, mittelgroß, immer roter Lippenstift, pinker Kajal und ihr Lippenpiercing plus das tätowierte Herz auf ihrer Schulter. „ Damit ich die Liebe immer bei mir habe!“, hatte Pi Judy mal erklärt. Ja, das war Pi, manchmal etwas vorlaut, aber doch süß! Wäre Pi nicht vergeben hätte Judy sich doch glatt an sie ran gemacht. „ Also?“. Ed erhob sich. „Mittagspause, meine Liebe!“. Pi schmollte. „ Noch was vor heute?“. Sie sah Ed an. „ Nach Feierabend ab auf die Coach!“, sagte dieser. „ Und du, Judy?“, fragte Pi. „ Ich gehe auf den Handwerker-Markt in die Stadt!“. Pis Gesicht erhellte sich. „ Cool! Ich komme mit!“. Ed räusperte sich. „ Meine liebe Pi, hast du nicht noch eine Verabredung?“. Pi schmollte erneut. Ed grinste. „ Zickenalarm, was?“.  „ Hör auf!“, zischte Pi. Ihre gute Laune schien dahin gerottet zu sein. „Jaja…“, kicherte Ed. „ Was ist daran witzig, Ed?“, keifte Pi. „ Ich weiß, warum ich keine Freundin habe!“, meinte dieser nur achselzuckend. „ Judy hat auch Keine!“, sagte Pi pampig. „ Also, gehe du auf deinen Markt mal alleine!“. ZACK…Pi rauschte davon. Ed und Judy wechselten einen Blick und sofort erhob Judy sich. „ Ich haue mal ab! Danke für das Wasser!“.
Und auch sie war weg!

Zwischen Bretzeln und Kakao

Judy war mit dem Bus in die Stadt gefahren.  Sie hatte auf einem der fleckigen Sitze gesessen, Kaugummireste auf dem Boden gemustert und mit einem halben Ohr dem trübseligen Gespräch zweier älterer Damen gelauscht. Als der Bus endlich hielt, sprang Judy hinaus. Die Luft war immer noch feucht vom Regen, jedoch wirkte sie jetzt noch frischer nach dem muffeligen Gerüchen, die Judy im Bus hatte einatmen müssen. Judy holte tief Luft, zupfte ihren schwarzen Pulli zu Recht und überquerte die Straße. Sie sah auf ihre ausgelatschten, schwarzen Chucks, während sie ging. Um sich herum nahm Judy nur ein wirres Stimmengewirr wahr. Kinder, die bettelten, dass man ihnen ein Eis kaufe. Alte Frauen bei Kaffeekränzchen, die ihre Cappuccinos schlürften und tratschten.  Ehepaare, die sich entweder stritten, sich ein Glas Wein gönnten oder gemeinsam Schmuck kauften. Auch Gerüche wimmelten umher. Gemische aus warmen Gebäck, Würstchen, Kakao, Wein, Zuckerwatte und frisch ausgetretenen Zigarettenstummeln. Judy blickte auf und schlurfte langsam an den Ständen des Handwerker-Marktes vorbei. Gierig betrachtete sie die Handarbeiten, die Fertigkeiten aus Wolle, Leder und Silber.

Judy wusste, dass sie sich all das nicht leisten konnte, dass nur ein paar vereinzelte Münzen in ihrer Hosentasche klimperten. Trotzdem wollte sie alles bestaunen, alles in sich aufsogen. Ihr Blick huschte begutachtend umher, um bloß nichts zu verpassen. Als sie bereits den ganzen Handwerker-Markt abgelaufen war und alles gesehen hatte, was man nur sehen konnte, setzte Judy sich auf eine Bank und betrachtete das herrliche Treiben. Die Menschenmassen, die an den Ständen vorbei strömten, die Tauben, die verlorene Gebäckkrümel aufpickten. Judy schloss die Augen. Die Geräusche und Gerüche umschwebten sie nun wie eine Wolke. Sie konnte allerdings nicht sagen, ob sie diese Wolke mochte oder nicht.  Als Judy die Augen nach einer Weile wieder aufschlug musste sie sich erst einmal wieder an die Helligkeit des Tages gewöhnen, obwohl der Himmel doch nur aschgrau war. Judys Blick wanderte erneut umher und blieb am Bretzel-Stand stehen. Dort stand eine kleine, zarte Person mit wilden dunklen Locken, einer Käse-Bretzel in der einen Hand, ein Becher Kakao in der anderen Hand und starrte sie an. Judy schärfte ihren Blick, starrte zurück. Rasch wand das Mädchen ihren Blick ab, wie ein scheues Waldtier. Doch Judy schaute nicht weg, sondern betrachtete das Mädchen genauer. Sie wirkte so als hätte die scheinbar schlafende Judy, die auf einmal zurück starrte sie aus der Fassung gebracht. Sie war nicht groß und hatte auch nicht viel auf den Rippen, was sie umso verletzlicher machte. Die dunklen Korkenzieherlocken, die ihr scheues Gesicht umrahmten, sahen aus wie eine sturmzerzauste Löwenmähne, was sie jedoch auch nicht stark wirken ließ. Ihre langen, schmalen Hände umklammerten die Käse-Bretzel und den Becher Kakao fest und ihr Blick war mit größter Mühe auf den Boden gerichtet. Wäre das Mädchen ein Tier, dann wäre es ein Reh. Wäre das Mädchen ein Fabelwesen, dann wäre es eine vorsichtige Elfe. Wäre das Mädchen eine Farbe, dann wäre es fliederfarben.

Judy schaute weiter, wollte unbedingt in das scheue Gesicht sehen, welches immer noch dem Boden zugewandt war. Judy blendete alles um sich herum aus, konzentrierte sich nur noch auf das Mädchen. In diesem Moment hob dieses ihren Kopf und blinzelten an ihren Locken vorbei in Judys Richtung. Ihre Augen waren braun wie schmelzende Zartbitterschokolade, ihr Blick war unsicher. Kleine, vereinzelte Sommersprossen zierten ihr mittlerweile blasses Gesicht. Ihre Lippen, die leicht glänzten, zitterten. Judy entdeckte ein Muttermal, welches an dem Hals des Mädchens unter ihrem orangen Halstuch hervor lugte. Und während Judy sich fragte, warum sie ausgerechnet die Farbe Orange trug, ergriff das Mädchen die Flucht und entwand sich Judys durchdringendem Blick.

Verwirrung

Judy taumelte zum Bus und ließ sich dort erschöpft auf einen freien Sitzplatz am Fenster fallen. Sie war ganz durcheinander, fühlte sich benommen. Der Gedanke an dieses Mädchen berauschte sie. Immer wenn Judy sich ihr Gesicht vor Augen führte, verschwamm alles um sie herum. Judy fühlte sich schuldig. Wie hatte sie dieses Mädchen nur so anstarren können? Sie hatte es entblößt, war ihr mit ihrem Blick viel zu nahe getreten und hatte ihr ihr Schutzschild entrissen. Doch andererseits hatte Judy einfach nicht wegschauen können. Sie hatte ihre entflammende Neugier nicht ersticken können. Und immer wieder fragte sie sich, wieso trug das Mädchen die Farbe Orange?
Wieso Orange? Wieso keine andere Farbe? Wieso etwas so Leuchtendes, fast Aufdringliches und Grelles, wenn man lieber durchsichtig sein wollte?
Judy war der festen Überzeugung, dass das Mädchen am liebsten durchsichtig sein wolle.  Diese Unsicherheit und Scheue, die das Mädchen ausgestrahlt hatte, verriet das nur zu gut. Judy fasste sich an die Stirn, denn sie fühlte sich fiebrig. Doch sie hatte kein Fieber, ihre Stirn war kalt. Kälter als die muffige Luft des Buses, kälter als die nasse Regenluft draußen.
Auf einmal verspürte Judy den Drang nach draußen zu springen und los zu rennen. Ihre Beine kribbelten, ihre Füße schienen beinahe taub zu werden. An der nächsten Bushaltestelle sprang Judy aus dem Bus und sprintete los. Die feuchte, frische Regenluft umwehte ihren sich fiebrig anfühlenden Kopf. Das Pfützen Wasser, was ihr an die Beine spritzte, löschte das Kribbeln. Der Druck, den sie auf ihren Füßen spürte, wenn sie Schritt für Schritt weiter rannte, löste die Taubheit. Judy ließ sich ihre Lunge mit kalter Regenluft füllen, ließ sich ihr ohnehin schon kurzes, wirres Haar noch mehr zerzausen und ließ sich alles um sie herum an ihren Ohren vorbei zischen. Judy rannte und rannte, solange bis sie in die ihr allbekannte Straße einbog, solange bis ihr die Luft dann doch weg blieb. Judy keuchte laut, rang nach Atem und lehnte sich an die schmutzige Hauswand. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen etwas blau. Nach etwa 10 Minuten schaffte sie es die quietschende, fast rostige, zerkratzte Haustür zu öffnen und das Treppenhaus hinauf zu stapfen. Judy fühlte sich müde, denn sie war es nicht gewohnt so zu rennen. Wie sollte sie das auch, wo sie es doch nie eilig hatte? Judy war im Dachgeschoss angekommen. Der Flurboden war mit einer feinen Staubschicht bedeckt, da sich sonst Niemand außer Judy hier oben aufhielt.  Die Farbe der Wände blätterte etwas ab, es roch beinahe faulig und die Holztür, die der Eingang zu dem kleinen Zimmer war, welches Judy bewohnte, klemmte. Die Tür knarrte, als Judy sie mit einem Ruck auf stoß.

Was für ein Leben…, dachte Judy. Ein einsames, kleines Zimmer mit einer Dachluke und einer spärlichen Ecke, die mit einem Klo und einem Waschbecken versehen war und somit als Bad und auch als Küche diente. Warmes Wasser hatte Judy nicht, sie war froh überhaupt welches zu haben. Sonst befand sich in dem Zimmer noch eine Matratze, ausgepolstert mit warmen Decken und Kissen, die Judy von Ed hatte. Zudem noch ein kleines Schränkchen vom Speermüll, gefüllt mit Klamotten und allerlei nützlichem Zeugs. Das funktionstüchtige Camp-Koch-Set, ausgestattet mit einem Wasserkocher, einer Pfanne, einem Topf, etwas Besteck, einem Kochlöffel und einem kleinen Gasherd hatte Pi zu der kleinen Behausung beigesteuert.

Ob das Mädchen wohl auch mit einem Camp-Koch-Set kochte? Judy schüttelte energisch den Kopf. Sicherlich nicht. Wahrscheinlich lebte es in Saus und Braus, wurde bekocht und bekam so viel Geld, dass es sich über 80 Käse-Bretzeln am Stück leisten könne. Judy pfefferte ihre Chucks in eine Ecke und ließ sich auf ihre Matratze fallen. Erneut tastete sie ihre Stirn ab, die immer noch kalt war.

Warum dachte sie, dass sie Fieber habe? Nur weil sie an dieses Mädchen dachte? Das Mädchen mit den wilden Locken, den Schokoladen-Augen, dem scheuen Blick und dem orangenem Halstuch. Je öfter Judy sich das Mädchen in ihre Erinnerungen rief, desto schöner kam es ihr vor.
Das unbekannte Mädchen, welches die Farbe Orange trug, für Judy jedoch fliederfarben war.
Judy war verwirrt.

Niemals aufwachen

Die dicke Fleece-Decke war zu Boden gerutscht oder war eher weg gestrampelt worden. Judy schlief nie ruhig und auch heute schreckte sie aus einem Traum hoch. Es war kein Alptraum gewesen, die sonst Judy so häufig plagten. Es war jedoch auch kein Traum gewesen, den Judy wirklich deuten konnte.

Sie hatte sich in einem Meer aus Farben befunden. Der Himmel war lila gewesen und sie, ein trister schwarzer Fleck war in einer orangenen Welle versunken. Judy rieb sich ihre Augen. Sie wäre gerne noch länger in den orangenen Wellen geschwommen, auch wenn sie einzig und allein nur ein Fleck der traurigsten Farbe war. Schwarz. Viele sagten, dass Schwarz keine Farbe wäre. Judy stand auf, wusch sich mit kaltem Wasser und schlüpfte in ihre Klamotten. Eine schwarze Hose, ein schwarzer Pulli. Sie besaß nur schwarze Kleidung. Während Judy ihre Füße in ihre Chucks zwängte, beschloss sie Schwarz nicht mehr als Farbe anzusehen. Nachdem sie die Holztür zu gedrückt hatte und ihre Hände in ihre Hosentaschen gestopft hatte, sagte sie sich:
„ Orange, das ist eine Farbe!“. Und sie wünschte sich erneut niemals aufgewacht zu sein.

„ So nachdenklich heute Morgen?“, fragte Ed als er Judy eine Tasse Kakao reichte. Er war sowieso verwundert, dass dieses Mädchen sich heute Kakao gewünscht hatte. Ed fiel auch auf, dass er eigentlich noch nie Kakao gemacht hatte. „ Probiere mal!“, forderte er Judy auf. „ Ich habe das noch nie gemacht!“. Judy blinzelte ihren Freund an. „ Ich auch nicht!“. Ed schaute noch verwunderter drein. „ Hast du es denn jemals schon mal getrunken?“. Judy schüttelte kaum merklich den Kopf. „ Woher weißt du dann, dass es dir schmeckt?“, fragte er. Judy zuckte mit den Schultern. Ed lachte auf.
„ Du bist merkwürdig!“. Dann werkelte er weiter in der Küche, machte sich einen Kaffee und schmierte ein paar Brötchen. „ Möchtest du auch Eins?“.

Sie hörte ihren besten Freund nicht. Sie starrte die Wand an, schlürfte ihren Kakao, der ihr sehr gut schmeckte und malte sich aus, was sie dem Mädchen sagen würde, wenn sie ihr noch einmal begegnen würde, was sie sich sehnlichst erhoffte. „ Magst du Eins mit Nutella drauf haben? Oder Marmelade? Die Wurst ist leider schon alle, die hat Maxi aufgefuttert!“. Judy starrte weiter die Wand an. „ Judy?“. Sie hörte nicht. Ed ging auf sie zu, schüttelte sie und brüllte: „ Judy? JUDY!!! Jemand zu Hause?“. Judy schreckte erschrocken hoch.                „ Mensch, Ed, was brüllst du so?“. Ed beäugte sie und bemerkte: „Sehr gesprächig bist du heute nicht! Magst du nun Nutella drauf haben?“.  Judy sprang auf, leerte ihre Tasse. „ Ed, wenn man eine Person sucht, wo sucht man sie dann?“. Ed verstand nicht. „ Häh? Wovon redest du bitte? Nutella oder Marmelade?“. Judy überlegte fieberhaft. „ Meinst du, sie ist da, wo sie gestern auch war?“. In Eds Augen spiegelten sich lauter Fragezeichen. „ Judy, was ist los mit dir?“. Doch Judy war schon auf und davon, rannte fast Pi in der Eingangstür um, die auch nur fragend drein schaute. „ Mädchen!“, meinte Ed kopfschüttelnd und biss in ein fertig geschmiertes Nutella Brötchen.
Judy hingegen marschierte mit raschen Schritten zur Bushaltestelle, um in die Stadt zu fahren.  In ihrem Hinterkopf pochte allerdings immer noch etwas, was sagte „ Was tust du da? Ach, wärst du heute doch niemals aufgewacht!“.

Die Suche

Der Hund des alten Mannes bellte. Sein Fell war zottelig. Judy umging die Bank, auf der der Mann nun saß. Es war die Bank, wo Judy gestern auch gesessen hatte, direkt gegenüber des Bretzel-Standes. Ihr Blick schweifte über den Markt und blieb immer wieder an der Bank oder an dem Bretzel-Stand hängen. Es war noch nicht viel los, was wahrscheinlich daran lag, dass es noch relativ früh war.  Judy ging auf und ab, drehte sich ständig um und versuchte jeden Stand mindestens fünfmal abzuklappern. Schritt für Schritt hetzte sie über die Backsteinpflaster und musste sich dauernd ermahnen langsamer zu gehen und bloß Ruhe zu bewahren. Ein paar kurze Haarsträhnen klebten ihr im Nacken. Judy holte tief Luft und lief noch eine Runde über den Handwerker-Markt.
Sie versuchte alles außer ihren Sehsinn auszublenden, lief ganz automatisch immer weiter. Judy lauschte nur ihrem Herzschlag, der ihr bis zum Halse schlug. Ihr Atem ging relativ schnell, ihr Brustkorb hebte und senkte sich unregelmäßig.

Wo war das Mädchen? Wo war das Orange, was doch nicht zu ihr passte? Wo waren diese vorsichtigen, schokoladenen Augen, in denen Judy ertrinken wollte? Moment. Judy hielt inne. Wollte sie das? In den Augen des wundersamen Mädchens ertrinken? Das hatte sie noch nie gewollt, noch nicht mal bei Christy, mit der sie über ein Jahr zusammen gewesen war. Judy rief sich abermals das Gesicht des Mädchens in ihre Erinnerungen, sah abermals sich diese Augen an. Ja, beschloss Judy. Ja, ich will in diesen Augen ertrinken!

Sie lief weiter, weiter und weiter. Sie suchte. Und nach mehreren Stunden wirkte ihre Suche panisch, unkontrolliert. Die Menschen sahen Judy an, wie sie so über den Handwerker-Markt irrte, sich umblickte. Manche Menschen tuschelten hinter ihrem Rücken oder verzogen die Miene. Judy bekam das alles gar nicht mit, sie war so in ihre Suche vertieft, dass sie alles andere vergaß.

Nach einer weiteren Stunde erfolglosen Umherlaufens blieb Judy stehen. In ihrem Kopf drehte es sich, in ihren Ohren dröhnte ihr wilder Herzschlag , ihre Beine fühlten sich ausgelaugt an, ihr Magen leer und ihre Augen brannten.
Ihr Nacken war schweißnass und klebrig. Judy holte tief Luft.
Was tat sie hier? Irrsinniges Herumrennen? Wofür? Für ein Mädchen, welches sie noch nicht Mals kannte, welches sie nur einmal gesehen hatte? Mit dem sie noch nicht Mals gesprochen hatte? Sie hatte es nur angestarrt. Mehr nicht.
Judy schüttelte den Kopf. Sie war dumm, hatte sich irgendetwas ausgemalt.
Sie blieb doch immer nur der schwarze, traurige Fleck. Was hatte sie sich bloß gedacht? Judy war zum Weinen zumute, doch sie riss sich zusammen, wollte gerade zur Bushaltestelle sprinten als ein orangenes Halstuch in der Menschenmenge aufleuchtete.

Gefunden?

Es pochte in Judys Kopf. Ist sie das? Das Mädchen? Ist sie es?
Judy kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können. Ein brauner Lockenkopf mit einem orangen Halstuch, der sich mit der Menschenmenge bewegte. Sie ist es! Sie muss es sein! Judy eilte los, hastig und irgendwie nervös. Sie durfte dieses Mädchen nicht aus den Augen verlieren, sie durfte es einfach nicht. Judy schnellte an den Menschen vorbei, quetschte sich hierdurch und dadurch, boxte sich den Weg frei. Ein merkwürdiges Gefühlschaos durchflutete sie. Neugier. Verlangen. Sehnsucht. Panik. Angst. Nervosität.
Judy kniff die Augen wieder zusammen. Das Mädchen hatte sich einen Weg aus der Menschenmenge gebahnt und ging jetzt über den großen Marktplatz. Judy rannte los, drängelte, schubste und ignorierte die : „ Pass auf!“, „ Bist du bescheuert?“, „ He, Mädchen!“- Rufe, die man ihr hinterher brummte. Judy rannte weiter und mit einem Mal stand sie vor dem Mädchen. Das Mädchen erschrak genauso sehr wie sie selbst. Verängstigt sah sie Judy an. Verwirrung huschte ihr übers Gesicht. Judy, die immer noch außer Atem war, betrachtete das Mädchen lange. Die wirren Locken, die reine Haut, der schmale Körper, die langen Finger, die Augen wie schmelzende Zartbitterschokolade. Das Mädchen trug eine Jeans, einen olivfarbenen Pullover und ihr orangenes Halstuch. Judy schielte zu dem Hals des Mädchens. Das Muttermal wurde diesmal von ihrem Halstuch bedeckt. Judys Blick wanderte zurück zu dem Gesicht des Mädchens. Ein zartes Engels-Gesicht, liebevoll und doch so scheu. Wärme breitete sich in Judys Körper aus. Je länger sie dieses Mädchen anschaute, desto wärmer wurde ihr. Am liebsten hätte sie ihre Hand ausgestreckt und nach dem Handgelenk des Mädchens gegriffen, doch die fragenden Augen, die sie unsicher anstarrten, ließen Judy sich zusammen reißen. Stattdessen schaute sie einfach nur weiter das Mädchen an, bewunderte es und zählte die vereinzelten, kleinen Sommersprossen, die ihr Gesicht zierten. Es waren genau Acht. Acht kleine Punkte, wie ins Gesicht getupft. Judy musste lächeln. Das Mädchen war so schön. „ Wieso trägst du die Farbe Orange?“, fragte Judy.
Nun waren die Augen des Mädchens nicht mehr unsicher, sondern verwirrt. Sie sagte nichts, schwieg nur und starrte. „ Ich bin Judy!“. Beide Mädchen schauten sich tief in die Augen. Die Wärme in Judys Körper verwandelte sich in Hitze. Ein unglaubliches Gefühl schoss ihr durch die Adern. Sie lächelte das Mädchen an.
„ Komm mit mir?! Ich möchte dir was zeigen!“. Das Mädchen schwieg immer noch und als Judy nach ihrer Hand griff zuckte sie zusammen. „ Darf ich dir was zeigen?“. Judys Finger umschlossen die Hand des Mädchen und sie ging los, langsam und ruhig. Stockend, unsicher und auch etwas verlegen ließ das Mädchen sich von Judy über den Platz und die Straße, hinüber in den Park zu Judys Lieblings Platz führen. Ein gemütliches Plätzchen unter einem Pflaumenbaum am See.
Das Mädchen setzte sich, als Judy sich setzte. Nun lehnten beide nebeneinander am Baumstamm. „ Ist es nicht wunderschön, hier?“, fragte Judy, während ihr Blick über den See schweifte. Enten plantschten im Wasser.
„ Orange ist mir die liebste Farbe…“. Judys Blick schnellte zu dem Mädchen. Da saß sie, die Knie angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, der Blick immer noch unsicher, aber ihre zarten Lippen hatten sich bewegt. Sie hat etwas gesagt. Orange ist mir die liebste Farbe… Judy wurde so warm ums Herz, dass sie es kaum aushielt. Die Stimme des Mädchens war sanft und ruhig gewesen.
„ Ich bin Liliane!“. Etwas zittrig reichte das Mädchen Judy ihre schmale Hand.  Strahlend schüttelte Judy diese. „ Liliane…“, wiederholte Judy flüsternd.
Beide Mädchen sahen sich tief in die Augen. Und während Judy in diesen schokoladenen Augen genüsslich ertrank , fragte sie: „ Warum ist Orange dir die liebste Farbe?“.  Liliane entwich ein Lächeln. Und dieses kurze Lächeln ließ Judys Herz für einen Moment aussetzen. „ Hast du schon mal gesehen, wie die Sonne aufgeht? Die vielzähligen Blüten einer Ringelblume bestaunt? Hast du schon mal lange in ein Lagerfeuer geschaut? Mit den Fingern über die Schale einer Mandarine gestrichen? Eine Wüstenlandschaft bewundert? Trockene Herbstblätter von den Bäumen rieseln sehen? Die feurigen Augen eines Uhus? Der liebliche Bauchfleck eines Rotkehlchens? Konntest du diese einzigartige, frische Schönheit jemals aufsaugen? Nein? Dann kannst du nicht verstehen, warum Orange mir die liebste Farbe ist!“. Jetzt war es Judy die schwieg, die gebannt Lilianes Stimme gelauscht hatte. Und die bemerkte, wie Liliane orange wurde, statt fliederfarben. „ Du bist orange!“, hauchte Judy, die vor lauter explodierenden Gefühlen in ihr drin nicht fähig war lauter zu sprechen. Die Unsicherheit und Scheue zerbrach in Lilianes Gesicht, ihre Haltung entspannte sich.
„ Du bist nicht schwarz!“, sagte Liliane.

Farben

Der Himmel wurde heller. Oder kam es Judy nur so vor? Kam es Judy nur so vor, weil Liliane alles erhellte? Weil Liliane alles orange färbte?
Judy konnte nicht anders als immer wieder zu ihr hinüber zu sehen. Dieses wundersame Mädchen, so natürlich schön und so orange. Wie hatte Judy nur immer glauben können, dass sie fliederfarben war? Vielleicht war sie das auch am Anfang gewesen, doch je länger man sie bestaunte, je länger man sie beobachtete und je mehr sie sich öffnete, desto mehr breitete sich das Orange aus und desto prächtiger wurde es. Und Judy? Was war sie für eine Farbe?
Nicht schwarz…hatte Liliane gesagt. Judy schmunzelte.
„ Was ist?“. Diese sanfte Stimme nahm Judys volle Aufmerksamkeit.
„ Ich bin nicht schwarz!“, flüsterte Judy. Sie lachte los. „ Ich war immer nichts. Für Niemanden hatte ich eine Bedeutung. Ich hatte keine Farbe. Und als ich meinte Eine zu haben, als ich meinte schwarz zu sein, da habe ich mich ihr angenommen!“. Judy lachte wieder auf, es war fast ein bitteres Lachen. Sie senkte den Kopf, schüttelte ihn und senkte ihren Kopf noch ein Stück tiefer.
„ Wie konntest du jemals denken schwarz zu sein?“. Judy riss ihren Kopf hoch. Lilianes schokoladene Augen musterten sie. Nicht voller Angst, nicht voller Abscheu, sondern voller Geduld. Das zuvor scheue, zurückhaltende Mädchen legte langsam ihren Schutzpanzer ab und rückte näher zu Judy heran.
„ Du bist nicht schwarz! Du warst es nie und du wirst es auch nie sein!“. Judys Herz fing wie wild an zu klopfen. Ihr Puls raste. Liliane strahlte eine unglaubliche Wärme aus. Je näher sie an Judy ran rückte, desto kribbeliger wurde ihr. Liliane roch wunderbar. Sie roch nach dem blumigen Duschgel, welches sie wohl am Morgen benutzt hatte. Ihre Locken dufteten nach frischer Regenluft und auch ein bisschen nach einem blumigen Shampoo. Sonst roch sie noch etwas süßlich, wie zarte Früchte an Bäumen, wie Blumen auf dem Feld, wie ein kühler Sommermorgen. Liliane roch auch orange.
Judy musste rasch schlucken. Sie musste den Drang Liliane augenblicklich zu küssen rasch hinunter schlucken. Lilianes Duft kroch ihr wieder in die Nase. Judy spannte all ihre Muskeln an, biss sich auf die Zunge. „ Weißt du, ein Mensch, der auf einer Bank sitzt und die Augen schließt, der schläft nicht. Er tut auch nicht so, denn wieso sollte er, wenn er doch nur genießt? Ein Mensch, der genießt, der kann nicht schwarz sein! Du kannst nicht schwarz sein!“. Lilianes Worte waren wie Messer, die die Fesseln um Judys Brustkorb wegschnitten. Die Fesseln, die ihr einst umgelegt wurden, weil man sie so verletzt hatte. Der Drang Liliane zu küssen war nun umso größer. „ Was bin ich für eine Farbe?“, presste Judy zwischen ihren Zähnen mühsam hervor.
„ Du bist blau! Kein dunkles Blau, sondern eher ein ewiges Himmelblau. Ein verträumtes Blau. So blau wie ein Morpho-Schmetterling oder ein Bläuling, vielleicht noch ein kleiner Schillerfalter. So blau wie die Federn eines Blauhähers und manchmal so blau wie die salzigen Wellen des Meeres“. Judy rang nach Atem, so wunderbar waren diese Worte für sie. Das Kribbeln verwandelte sich in leidenschaftliche Fluten, die sie durchströmten. Judy kämpfte dagegen an. Liliane kam Judy noch näher, griff nach ihrer Hand und blickte ihr tief in die schwarzen Augen. „ Kämpfe nicht dagegen an!“, hauchte Liliane. Ihr Mund war zartrosa. Ihre Augen klar. Judy ertrank in ihrem Blick und konnte sich nicht mehr wehren, sie verfiel ihm und presste ihre Lippen sehnsüchtig auf Lilianes. Und Liliane erwiderte ihren Kuss.
Ein Zusammentreffen zweier Farben. Eine Explosion von Orange und Blau.

Orange und Blau

„ Darf ich dich Lilli nennen?“.  Die beiden Mädchen lagen nebeneinander im feuchten Gras und hielten einander die Hand. „ Nenne mich so, wie du magst!“.
Ein kühler Wind wehte umher. „ Ich nenne dich Lili!“. Die Wangen der beiden Mädchen waren gerötet. Lag es an der kühlen Luft oder eher an den verliebten Küssen? „ Lili?“. „ Ja?“. „ Du bist wunderschön orange!“. „ Judy?“. „ Ja?“.
„ Du bist zauberhaft blau!“. Beide Mädchen lachten. Die Eine mit den kurzen Gel-Haaren, die Andere mit den wirren Locken. Beide ein Lächeln im Gesicht. Das orangene Halstuch war etwas verrutscht, sodass man ihr Muttermal am Hals wieder deutlich wahrnahm.„ Du küsst gut!“, grinste Judy. Liliane schwieg, kaute auf ihrer Unterlippe. „ Ich habe das aber zuvor noch nie gemacht!“, gestand sie. „ Das macht nichts!“, sagte Judy. „ Weißt du was, Lili? Ich war noch nie blau und ich habe zuvor auch noch nie ein Mädchen kennen gelernt, welches orange war!“. Jetzt lachte Liliane auf. „ Weißt du was, Judy? Ich auch nicht!“. Beide Mädchen lachten.  Judy drückte Lilianes Hand leicht. Womit hatte sie dieses wunderbare Mädchen in Orange nur verdient? Womit? Oder konnte man sagen, dass sie es endlich verdient hatte? Das sich endlich das Blatt wendete? Das sie endlich glücklich war? Das sie endlich etwas hatte, wofür es sich zu eilen lohnte? Das sie endlich eine Farbe hatte? Endlich eine Art Zuhause? Endlich ein Mädchen, in dessen Augen sie ertrinken wollte?
Judy konnte es nicht fassen. Dieses Glücksgefühl, diese Liebe, die eigentlich nur durch eine zufällige Begegnung einstanden war. Einer Begegnung zwischen Bretzeln und Kakao. Zufällig? Oder war es Schicksal gewesen?
Liliane drückte Judys Hand leicht zurück. Judy wollte nicht grübeln, sie wollte genießen. Einfach leben, endlich wirklich glücklich sein. Sie würde versuchen diesen Zeitpunkt auszukosten, solange es noch ging. Bevor irgendwelche Fragen auftauchten, man beschloss sich alles voneinander zu erzählen und die Freundin mit nach Hause zu nehmen. Judy würde es tun. Sie würde Liliane alles erzählen, sie mit in den kleinen Raum im Dachgeschoss nehmen, sie würde Liliane Ed, Pi und Maxi vorstellen. Sie würde es tun, mit der Zeit. So etwas brauchte Zeit, schließlich war alles neu. So neu und frisch, wie eine gerade eben erst gestrichene zweifarbige Wand. Jetzt wollte sie es erst mal genießen und bewundern. Und Judy glaubte, dass es auch Liliane so ging. Man fragte noch nicht viel. Man sprach es nicht aus, diese kleinen drei Worte. Warum musste man sich unbedingt aussprechen, wenn man es doch insgeheim wusste? Wenn man es doch fühlte? Und wenn man es doch zeigte? Judy beugte sich zu Lilianes Lippen. Ihre Gesichter waren so nah beieinander. Judys Atem kitzelte Lilianes Wangen. Sie sahen sich verträumt in die Augen und ertranken darin. Ein Lächeln umspielte beide Münder, welches nicht verschwand, als Judy ihre Lippen sanft auf Lilianes drückte.
Ein Explosion zweier Farben, Orange und Blau.


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Cida für die schöne Geschichte.

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