Der Sturm in der Stille

Eine neue Kurzgeschichte von Lillian

Die Lehrerin – ich nannte sie Lehrerin, denn ihr Name war so nichtssagend, dass ich ihn schon wieder vergessen hatte – öffnete die Tür und bedeutete mir mit einer Bewegung ihres Arms einzutreten. Ich wusste, die Klasse saß bereits hier und sah mich jetzt kollektiv an, ich jedoch bemühte mich sie zu ignorieren und sah durch die Strähnen meines Ponys auf den Boden. Mit den Augen verfolgte ich die gewundenen, hellen Schlieren, die den dunkelgrauen Linoleumboden durchzogen, während die Lehrerin mich anscheinend der Klasse vorstellte, was ich jedoch nicht bewusst wahrnahm, es interessierte mich ja auch nicht, wie ich hieß und woher ich kam, ich wusste das ja wohl selbst am besten.

„Du kannst dich dorthin setzen“, sagte die Lehrerin jetzt zu mir gewandt und ließ mich wieder zuhören. Langsam, als wäre es mir egal, hob ich den Kopf und folgte ihrem Zeigefinger.

Was ich sah und was ich dabei empfand überwältigte mich.

Oh nein, nein, nein, nein, rief die Stimme in meinem Kopf. Mein erster Impuls war es mich umzudrehen und wegzulaufen, weit wegzulaufen, ohne anzuhalten, immer geradeaus, ohne zurückzuschauen. Doch stattdessen stand ich wie versteinert da, unfähig eine Schritt zu machen. Nach wenigen Sekunden schaffte ich es jedoch mich mit großer Anstrengung aus meiner statuenhaften Haltung zu lösen und mich schlurfenden Schrittes auf meinen neuen Platz zu bewegen.

„Hi, ich bin Ella,“, stellte sich der Grund meiner Schockstarre vor.

„Ich, äh …,“, ich begann zu stocken, weil ich das Gefühl hatte, dass das Klopfen meines Herzens bald bisher noch unerreichte Geschwindigkeiten erlangen würde.

„Nenn mich Ley“, brachte ich schließlich doch heraus und sie lächelte mich an. Doch das machte alles nur noch schlimmer, denn sie hatte dieses Lächeln, das einen sofort dahinschmelzen ließ und das so sorglos und unbefangen wirkt, dass man sich wünscht die Person würde einen mit ihrer Fröhlichkeit anstecken. Lange würde ich es nicht ertragen können dieses Lächeln zu sehen, denn es war unmöglich für mich das zu tun, ohne das es ein Gefühlschaos bei mir auslöste. Mein Bauch begann sich schmerzhaft zusammenzuziehen und ich hatte das Gefühl als würden innerlich unsichtbare Kräfte an mir zerren, denen ich standhalten musste um nicht zu zerreißen.

Sie sah mir in die Augen.

„Das ist aber ein ungewöhnlicher Spitzname.“

Ich wollte nicken, aber ich war gefangen von ihren Augen, so tieftürkis, meergrün wie der Ozean, unergründlich, aber so wunderbar, unerträglich freundlich. In diesen Augen konnte ich mich ewig verlieren.

„Was ist?“ Sie zog ihre Nase kraus und legte ihre Stirn in Falten, was bei ihr einfach nur süß aussah.

„Ich wollte nur wissen, welche Augenfarbe du hast.“

„Ach so.“ Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Unerwarteterweise fand sie mein Verhalten nicht seltsam, was verwunderlich war, denn die meisten Menschen würden mich in so einer Situation nur mit einem unverständigen Kopfschütteln bedenken. Die Lehrerin begann mit dem Unterricht und Ella drehte den Kopf nach vorne, wobei ihr Gesicht verdeckt wurde, durch ihre rotblonden Locken, die jetzt seitlich herunterfielen. Rote Haare hatten für mich immer etwas Feuriges, manchmal auch Aggressives, aber durch den Goldton wirkte es so weich und angenehm, eine schöne Haarfarbe. Bisher schien mir alles an ihr sympathisch, was jedoch ein Problem für mich war.

Angestrengt nach vorne starrend versuchte ich nun trotzdem dem Unterricht zu folgen, doch meine Gedanken liefen im Kreis, wie ein Tiger im Käfig, und so begann es wieder von vorne.

Ich hatte mich schon mal verliebt und hatte eine furchtbare Abfuhr erhalten, schlimmer noch, das Mädchen hatte, nachdem ich ihr meine Gefühle gebeichtet hatte, schlimme Gerüchte verbreitet und mich so von der Schule vertrieben. Sie hatte ich völlig falsch eingeschätzt, ich dachte sie wäre anders, nett und aufgeschlossen, doch ich hatte mich so sehr geirrt und das hatte mir so wehgetan. Darum durfte mir so etwas nie wieder passieren, das hoffte ich so sehr. Wenn es wahrscheinlich auch nicht ganz so schlimm enden würde, positiv würde es auf keinen Fall für mich ausgehen. Und deshalb durfte ich Ella verdammt noch mal nicht so toll finden.

Mehr schlecht als recht stand ich die erste Stunde durch. Der Gong schien mir wie eine Erlösung und ich floh direkt aus dem Klassenzimmer, aber Ella war mir dicht auf den Fersen.

„Warte! Du weißt doch gar nicht wo du hinmusst!“

Resigniert blieb ich stehen und ließ sie aufholen. Den ganzen restlichen Weg aber sprach ich nicht und hielt Sicherheitsabstand zu ihr, ich wollte sie nicht berühren. Natürlich bemerkte sie, das etwas nicht stimmte, ich merkte, wie ihr prüfender Blick mich von der Seite streifte, doch sie blieb zurückhaltend und schwieg ebenfalls.

Als wir im Klassenzimmer ankamen, steuerte ich sofort, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, auf die hinterste Reihe zu, doch Ella rief mich an, stehen zu bleiben.

„Setz dich doch neben mich“ bat sie.

Oh nein, eine Bitte von ihr konnte ich nicht ausschlagen, ich wollte nichts tun, um sie unglücklich zu machen, jedoch würde ich alles tun, um sie zum Lachen zu bringen, das gefällt mir so, obwohl es mich so schmerzhaft an alle meine schlimmen Erfahrungen erinnert. Warum musste ihre Freundlichkeit alles noch unerträglicher machen? Wie konnte ich ihrer Anziehung entgehen? Ich durfte sie nicht so nett finden, es würde mich nur ins Unglück stürzen und mich für lange Zeit daran hindern zufrieden mit meinem Leben zu sein.

Sie strich ihre wunderschönen Locken aus dem Gesicht hinter ihr Ohr. Gerade schien die Sonne so auf ihre Haare, dass sie von goldenem Licht umrahmt war. Oh nein, warum musste ich jetzt bei ihrem Anblick auch noch an Engel denken? Als ob es noch nicht genug wäre.

Der Lehrer riss mich aus meinen Gedanken als er anfing der Klasse eine lautstarken Vortrag über angemessenes Verhalten im Unterricht zu halten.

„Ich habe das Gefühl, manche von euch können einfach nicht die Klappe halten!“

„Na sie doch auch nicht,“, murmelte ich leise,damit mich niemand hören konnte.

Doch dann, als Ella zu lachen anfing, begriff ich, dass sie mich sehr wohl gehört hatte. Nachdem uns der Lehrer mit einem bösen Blick bedacht hatte hörte sie auf, doch in meinen Gedanken klang dieses Lachen noch länger nach. Es war unvergesslich schön.

Und schon wieder fing mein Puls zu rasen an, meine Hände zitterten vor Aufregung und ich senkte meinen Blick, damit niemandem etwas auffiel, falls ich rot werden würde. Da sah ich plötzlich wie in Zeitlupe einen schweren roten Tropfen auf meinem Heft landen.

Nicht schon wieder, dachte ich, während ich zusah, wie die Tropfen immer schneller hintereinander fielen. Ich hielt mir schnell die Hand vor die Nase und als ich aufsah, bemerkte ich die erschrockenen Blicke um mich herum.

„Geh ins Sanitätszimmer,“, sagte der Lehrer etwas schroff. „Und du geh mit,“, fügte er, auf Ella deutend, hinzu und so verließen wir das Klassenzimmer.

Kurz darauf hing ich mit dem Kopf über dem Waschbecken.

„Hast du öfter Nasenbluten?“

„Nein, nur wenn ich aufgeregt bin“, gab ich zu und wandte mein Gesicht zu ihr.

„Na, da hast du schon einmal einen turbulenten ersten Tag und zuhause was zu erzählen,“, entgegnete sie mit einem verschmitzten Grinsen.

Ich drehte meinen Kopf wieder zum Waschbecken und betrachtete das Muster, das die schön rot gefärbten Blutspritzer bildeten. Mich mit wackligen Armen auf den Waschbeckenrand abstützend nickte ich langsam. Aus dem Spiegel, der hier hing, blickte mich ein blasses, blutverschmiertes Gespenst an.

„Willst du dich krankmelden?“

„Nein, das kann ich am ersten Tag nicht bringen“, antwortete ich und begann mir mit einem feuchten Tuch das Blut aus meinem Gesicht und von meinen Händen zu wischen, jedoch zitterten meine Hände sehr, sodass mir dies nicht gründlich genug gelang.

„Soll ich?“, fragte sie und nahm mir das Tuch aus der Hand, bevor ich den Kopf schütteln konnte. Als sie mir vorsichtig die Lippen abtupfte fing meine Haut dort an zu kribbeln und diese Gefühl breitete sich blitzschnell über meinen ganzen Körper aus.

In diesem Augenblick träumte ich davon sie zu küssen: Ich strich ihr vorsichtig die Strähne aus dem Gesicht, die sich wieder gelöst hatte, nahm ihr Gesicht vorsichtig in meine Hände und küsste sie auf ihre samtweichen Lippen, die so rosa waren, wie der Himmel, bevor die Sonne aufgeht.

Als ich mir fest auf die Unterlippe biss, um diese Gedanken loszuwerden, verschwand das Traumbild und ich war wieder in der Realität zuhause. Dieser Wunsch war unerfüllbar und das wusste ich, doch ging mir alles zu schnell und so fiel es mir besonders schwer meine Gefühle zu unterdrücken.

„Ich kann das selber“ gab ich, vielleicht etwas zu forsch, zurück.

Ihre Augenbrauen zogen sich nach oben, sie ließ das Tuch sinken und drückte es mir in die Hand. Ich warf es in den Papierkorb und wusch schweigend meine Hände. Jetzt schien sie beleidigt, oder zumindest schlecht gelaunt zu sein, ich konnte ihre Stimmung nicht exakt einschätzen. Scheinbar war ich ihr irgendwie auf die Füße getreten, das spürte ich, aber ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen, so sehr ich das auch wollte. Was ich wollte, aber eigentlich nicht wollen durfte, war, sie einfach nur lächeln zu sehen. Dieses Lächeln, das mich so schmerzhaft an Vergangenes erinnerte.

Sie schien jetzt auf Distanz zu gehen, eigentlich ganz in meinem Sinne, doch konnte mich das kein bisschen erfreuen. Gerade in diesem Moment wollte ich nur woanders sein.

„Vielleicht sollte ich mich doch abholen lassen.“

Wortlos führte sie mich ins Sekretariat und legte mir das auszufüllende Formular vor die Nase.

„Ich geh zurück in den Unterricht und sag dem Lehrer bescheid“ sagte sie und war schon kurz darauf durch die Tür verschwunden.

Ich seufzte leise und nahm einen Stift in die Hand.

Warum musste das Leben nur so kompliziert sein?

Mein älterer Bruder holte mich mit dem Auto ab, meine Eltern hatten keine Zeit.

„Ist sonst noch irgendwas, außer das du am ersten Tag schon ein Blutbad veranstaltet hast?“ fragte er mit einem schelmischem Grinsen auf dem Gesicht, das er mir jetzt zugewandt hatte, doch ich sah demonstrativ aus dem Fenster und sah zu, wie die Welt schnell vorbeizog.

Plötzlich jedoch wurde ich durch dröhnende Bässe aus meinen versunkenen Gedanken gerissen.

„Tschuldigung, das Autoradio war falsch eingestellt“ murmelte mein Bruder verlegen, nachdem er die Lautstärke geregelt und einen anderen Sender eingestellt hatte. Ich verdrehte die Augen und wollte wieder abschalten, als mich etwas aufhorchen ließ. Der Interpret dieses Liedes besang genau meine Gefühlslage:

„Und immer, wenn mein Herz nach dir ruft

und das Chaos ausbricht in mir drin,

schick ich meine Soldaten los,

um den Widerstand niederzuzwingen.“

Das war genau das, was ich tun musste, wofür ich jedoch nicht stark genug war. Und niemand konnte mir helfen, niemand meine Gefühle verstehen.

Zuhause angekommen nahm ich den direkten Weg in mein Zimmer und sperrte die Tür hinter mir zu. Als erstes drehte ich wie immer die Musik auf und schon nachdem die ersten Töne gespielt wurden merkte ich, dass die Sorgenfalten aus meinem Gesicht verschwanden, ich einfach entspannter war und meine Umwelt fast unmerklich heller erschien.

Ich setzte mich ans Fenster und sah nach draußen. Der Himmel war grau und es nieselte leicht, nur an einer einzigen Stelle durchbrachen die Sonnenstrahlen die Wolkendecke und ich sah einen kleinen blauen Fetzen. Darunter war wunderschön ein leichter Regenbogen zu sehen, man musste sich anstrengen um ihn zu erkennen, doch er zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht.

Diese Momente, die Musik und solche kleinen Dinge, konnten mich kurz glücklich machen, aber immer, wenn ich glücklich wurde, wurde ich auch wehmütig und dachte an Zeiten, in denen das Leben einfacher war und da war ich nicht selten kurz davor zu weinen. Weinen aus Glück und aus Wehmut war zwar besser als weinen aus Trauer, trotzdem wäre es mir lieber, wenn ich emotional nicht so instabil wäre.

Ich kämpfte jeden Tag um mein Gleichgewicht, darum mich selbst nicht zu hassen, mich nur auf die Leute zu konzentrieren, die mich mochten, und nicht alles nur negativ zu sehen.

Es war, als würde ich auf einem Balken balancieren und ich konnte mich in einem gewissen Maß zur Seite lehnen, musste jedoch allem ausweichen, was mich herunterstoßen könnte.

Ich fühlte mich, als wäre Ella von hinten direkt und mit voller Wucht in mich hineingeknallt und als würde ich mich nun nur noch mit zwei Fingern festhalten, um nicht in den Abgrund zu stürzen.

Um dieses sehr reale Gefühl loszuwerden atmete ich tief durch, legte mich auf mein Bett, hörte die Musik und dachte dabei an bessere Zeiten.

Kaum hatte ich die Augen zugemacht klopfte es an der Tür. Es konnte nicht wegen der Lautstärke der Musik sein, denn ich drehte sie nie zu laut auf. Ich wollte mich mit meinen Eltern nicht anlegen, es reichte mir, wenn sie mich in Ruhe ließen.

„Was?“

Jemand drückte die Klinke nach unten und versuchte vergeblich die Tür zu öffnen.

„Kannst du bitte aufmachen?“ fragte mein Bruder.

Genervt und betont langsam stand ich auf – wo war nur die einsame Insel, wenn man sie mal brauchte – und ging zur Tür, drehte den Schlüssel um und bewegte mich wieder in Richtung Bett.

„Ich hab uns was zu Essen gemacht“ begann er, nachdem er sich neben mich auf mein Bett gesetzt hatte. Ich presste demonstrativ die Lippen zusammen und sah auf den Boden.

„Was ist los? Ich seh es dir doch an, dass dich irgendetwas unglücklich macht. Du solltest dich nicht so verschliessen, du hast schon vor dem Umzug nicht mit uns geredet und warst aus irgendeinem Grund direkt froh als wir umgezogen sind. Was war da los? Deine Noten sprechen zwar dafür, aber ich kauf dir trotzdem nicht ab, dass du die Schule aufgrund der schlechten Lehrer sowieso verlassen wolltest. Irgendwann musst du doch mal mit uns reden.“

Jetzt klang er fast verzweifelt.

„Danke, aber ich habe keinen Hunger.“

Sein Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck und seine Augen blickten mich sorgenvoll an, dann stand er auf und ging und ich sperrte die Tür wieder ab.

Ich hatte ihn verletzt und das wollte ich eigentlich nicht, aber jetzt hatte ich wenigstens wieder einige Zeit Ruhe.

Am nächsten Morgen stand ich auf, obwohl ich überhaupt nicht in die Schule wollte. Mit vor Müdigkeit kleinen Augen zog ich mir die Klamotten von gestern wieder an, kämmte mir einmal schnell durch meine kurzen Haare und aß einen Apfel zum Frühstück. Alle anderen waren schon aus dem Haus und so konnte ich mich in Ruhe sammeln und auf diesen Tag vorbereiten. Es würde heute nicht einfach werden, aber ich versuchte das Beste draus zu machen. Besser war auf jeden Fall schon, dass ich wusste, was mich erwartete. Und vielleicht ging es ja bald wieder vorbei, dieser Zustand kurzzeitiger geistiger Verwirrung.

Ich schaffte es, auf dem Schulweg so zu trödeln, dass ich erst kurz vor knapp das Klassenzimmer betrat. Sie saß schon da, neben meinem Platz, und lächelte mich an, als wäre gestern überhaupt nichts passiert. Es schien, als würde sie sich ehrlich freuen, mich zu sehen.

Nachdem ich nochmal kurz durchgeatmet hatte, raffte ich mich sogar dazu auf, leicht zurückzulächeln.

„Geht’s dir heute wieder besser, bist du wieder gut drauf?“

Zur Antwort nickte ich nur, mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.

Sie setzte erneut an: „Ich weiß, dass die neue Situation für dich sicher sehr kompliziert ist und du dich erst eingewöhnen musst. Und du hast hier noch keine Freunde, darum möchte ich deine Freundin sein. Du kannst immer zu mir kommen, wenn was ist, ok?“

Mein Lächeln daraufhin war etwas gequält, denn plötzlich hatte mein Kopf angefangen zu schmerzen.

„Das ist nett von dir, ich wäre auch gerne mit dir befreundet“ und das meinte ich ganz ehrlich, denn das wollte ich wirklich. Das wäre mein Idealszenario, doch dem stand im Moment vor allem ich selbst im Weg.

Ich hatte es geschafft, ich hatte den Tag durchgestanden. Die Pausen verbrachte ich alleine. Ella fragte mich nicht, wo ich gewesen war oder ob ich mit ihr mitgehen wollte. Sie schien sehr feinfühlig zu sein, was meine Stimmungslage betraf und wann sie mich besser in Ruhe ließ.

Zuhause setzte ich mich an den Computer. Aber mein Email-Fach war leer, schon wieder. Mein Handy hatte auch keine Nachricht empfangen und Post bekam ich erst recht nicht. Ich hatte so vielen Leuten geschrieben – und eine Antwort hätte mich sehr gefreut.

Es hatte doch Leute gegeben, die mich immer noch mochten oder die ich woanders als in der Schule kennengelernt hatte. Niemand antwortete mir. War irgendetwas passiert oder ignorierten sie mich einfach? Was war los?

Ich würde sie auch gern wieder sehen, manche hatte ich schon seit mehr als einem halbem Jahr nicht mehr getroffen. So dringend brauchte ich mal wieder Kontakt zu meinen alten Freunden, ich musste unbedingt mal wieder mit jemandem reden, der mich verstand. Aber taten sie das?

Ich vermisste sie so sehr, aber dachten sie überhaupt mal an mich?

Zurzeit bestand überhaupt kein Kontakt. Sie hatten vielleicht viel zu tun, aber war ich wirklich so unwichtig?

Am nächsten Morgen fuhr mich mein Bruder in die Schule, weil er erst später zur Arbeit musste. Ich wollte nicht, denn das hieß, dass ich vor dem Unterricht mehr Zeit in der Schule verbringen musste.

Ich ging zur Eingangstür hinein und sah sofort, dass Ella mit ein paar anderen am gegenüberliegenden Ende der Aula auf den Stufen der Treppe saß. Unschlüssig und leicht frustiert blieb ich stehen, doch da hatte sie mich schon entdeckt und winkte mich zu sich. Mit schlurfenden Schritten kam ich ihrer Aufforderung nach.

Neben Ella saß Ein Mädchen mit langem braunen Haar, das sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und unnatürlich blauen Augen, über denen sich schräg nach innen geneigte Augenbrauen zusammenzogen.

„Das ist Ley“ stellte sie mich vor „und das ist Mona“ sagte sie zu mir gewandt.

Mona starrte mich an, ich starrte zurück. Ich mochte sie nicht, nein, sie war mir vollkommen unsympathisch. Sie machte sich auch keine Mühe ihre deutliche Abneigung mir gegenüber zu verbergen. Aber nach einiger Zeit schienen wir uns einig geworden zu sein, wir würden distanziert bleiben und uns mit angemessener Höflichkeit begegnen, aber wir würden nie Freunde werden.

Ella fuhr fort, als hätte sie nichts bemerkt: „Und das ist Nico.“

Sie deutete auf den Jungen, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Er sah durchschnittlich aus, kurze braune Haare, braune Augen, mittelgroß, unauffällig. Ob er gut aussah? Ich konnte es nicht beurteilen.

Doch in seinem Blick sah ich es sofort. Nachdem ich in etwas länger beobachtet hatte, fiel mir noch mehr auf. Ich war die ganze Zeit still gewesen und hatte nur das Gespräch verfolgt.

Wie er über alle Witze lachte, die Ella machte, auch über die schlechtesten; überdreht und leicht nervös. Wie er all ihren Bewegungen mit den Augen folgte.

Nico war unglücklich in Ellas Bann gezogen worden und ich verstand ihn nur zu gut. Er war mein Leidensgenosse.

Einige Tage später, der Sommer zeigte sich endlich von seiner besten Seite, war Ella nicht in der Schule. Ich hatte nachmittags Unterricht und verbrachte die Mittagspause mit Nico. Nur wir zwei. Denn, wie ich gemerkt hatte, verstand sich Nico auch nicht mit Mona, aber sie war Ellas beste Freundin und deshalb arrangierte sich auch Nico mit ihr.

Weil die Sonne so schön schien gingen wir spazieren.

Plötzlich gab Nico einen kurzen Schmerzensschrei von sich. Ein paar kleine Jungs hatten ihn mit einem Stein am Kopf getroffen. Ich hob den Stein auf und sah, dass ein Papier um ihn gewickelt war. Den Stein warf ich wieder weg und faltete den Zettel auseinander, dann las ich was darauf stand: GAY!

Mein Herz stoppte. Gab es etwa schon wieder solche Gerüchte um mich?

Ich hatte anscheindend sehr erschrocken ausgesehen, denn Nico versuchte gleich mich zu beruhigen.

„Keine Sorge, der Zettel meint mich. Die Jungs haben wohl gerade wieder Langeweile.“

Ich atmete erleichtert auf. Auch wenn es nicht gut für Nico war, konnte ich nicht anders als mich zu freuen.

„Welchen Grund haben die? Ich meine, wie kommen die darauf?“, fragte ich.

„Ich habe jahrelang in Musicals mitgespielt. Und wenn man Musicals spielt als Junge, muss man schwul sein, oder?“

Er seufzte.

„Du bist nicht schwul, ganz bestimmt nicht.“

„Woher willst du das wissen?“ fragte er fast etwas spöttisch.

„Weil du ganz offensichtlich in Ella verliebt bist.“

Eine Pause entstand. Nico blickte mit traurigem Blick auf den Boden. Er schien keine Hoffnung zu haben.

„Das sieht man, wenn man aufpasst“ fuhr ich fort. „Und wegen der Gerüchte: Ich versteh dich da vielleicht besser als du denkst.“

Er schwieg weiter und sah mich nur an.

„Wegen Gerüchten hab ich die Schule gewechselt.“

„Was haben sie über dich erzählt?“ fragte er.

Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, es jemandem zu erzählen. Mein Bruder hatte Recht, irgendwann musste ich anfangen darüber zu reden. Und warum sollte ich Nico nicht vertrauen? Er fühlte doch auch so wie ich.

„Na ja … , ein Mädchen an meiner alten Schule, dem ich vertraut habe, hat mich als lesbisch geoutet, obwohl das gar nicht stimmt.“

„Wie kam sie darauf?“

Das nächste Geständnis kam mir nur schwer über die Lippen, doch wenn ich nicht jetzt darüber sprach, wann dann.

„Ich hab ihr gestanden, dass ich in sie verliebt bin“

Eine Ewigkeit verging, bis Nico wieder etwas sagte.

„Bist du in Ella verliebt?“ fragte er mich mit sehr ernster Miene.

Ganz vorsichtig nickte ich.

„Du bist vielleicht nicht lesbisch, aber verdammt nah dran. Immerhin hast du dich schon mindestens zweimal in ein anderes Mädchen verliebt.“

Das hatte ich eigentlich nicht hören wollen.

Ella war am nächsten Tag wieder in die Schule gekommen. Still und Leise. Sie saß mit Mona und Nico auf den Treppenstufen. Blass sah sie aus, aber nicht besonders krank, sondern eher unglücklich. Die anderen waren in ihre Bücher vertieft, weil sie in der nächsten Stunde Schulaufgabe schrieben. Sie waren so konzentriert, dass sie Ella gar nicht beachteten, aber man konnte es ihnen auch nicht übelnehmen.

„Guten Morgen!“ begrüßte ich sie möglichst fröhlich. Als sie dann aber langsam und stumm aufblickte, hatte ich das Gefühl, dass ihre Augen heute dunkler waren. Ein Sturm war übers Meer gezogen.

Ella bemühte sich nicht einmal höflich zu sein, also musste es ihr wirklich schlecht gehen.

Trotz meines klopfenden Herzens setzte ich mich ganz nah neben sie und sah sie an.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, ich brauche nur frische Luft“ sagte sie, stand auf und eilte mit großen Schritten Richtung Tür zum Pausenhof.

Ich folgte ihr. Als ich sie eingeholt hatte, saß sie mit dem Rücken zu mir auf einer Bank und hatte die Knie an ihren Körper gezogen. Ich setzte mich neben sie.

„Hey, was ist los?“

Sie schwieg eine zeitlang und schien nach Worten zu suchen, dann stellte sie ihre Füße wieder auf den Boden und drehte sich zu mir. Ihr Blick war komisch, ich konnte ihn nicht deuten.

„Du bist so süß“ fing sie an und ich erstarrte. „Du willst immer, dass es mir gutgeht. Und du bist viel selbstbewusster und so viel hübscher als ich.“

„Der Meinung bist aber auch nur du, mach dich selbst doch nicht so fertig, du bist ehrlich eine wundervolle Person“ entgegnete ich.

Sie setzte zu einer Antwort an. Ich atmete tief durch; jetzt würde sie endlich zu ihrem wirklichen Hauptproblem kommen.

„Aber wer würde mich schon küssen wollen?“

Ihre Haltung war zusammengesunken. Sie ließ ihre Schultern hängen und schien insgesamt viel kleiner geworden zu sein.

Ich nahm ihre Hände, die sie auf ihre Oberschenkel gelegt hatte, in meine und sah ihr tief in die Augen.

Unerwarteterweise zitterte meine Stimme nicht einmal, als ich leise die Antwort gab, die sie bestimmt nie erwartet hatte: „Ich.“

Ich küsste sie nicht wirklich. Meine Lippen streiften ihre wolkenweichen Lippen nur wie ein Windhauch. Aber dieser Hauch genügte um ein gewaltiges Feuerwerk in meinem Körper zu entzünden.

Ich war mir jetzt sicher, ich war mehr als nur verdammt nah dran. Und jetzt wurde mir auch klar, dass ich schreckliche Angst davor hatte, dass mein Traum in Erfüllung ging.

Ella rang nach Luft und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Die Frage jetzt war nur noch, wer als Erstes aufstand und davonrannte. Es war Ella. Nach einer unendlichen Sekunde der Erstarrung floh sie zurück ins Schulhaus. Ich blieb sitzen, denn ich hatte nicht die Kraft ihr nachzulaufen.

Mit wackeligen, zittrigen Beine brauchte ich einige Zeit, um aufzustehen und mich aufzurichten. Kaum stand ich, beugte ich mich schon wieder vor und erbrach mich neben die Bank ins Gras, das erste Mal von vielen in der folgenden Woche. Ich ging nicht mehr in die Schule, ich stand nicht mehr aus dem Bett auf, ich aß nichts, ich sprach mit niemandem und fühlte mich einfach elend. Es schien als wollte sich mein Körper gegen das wehren, was ich fühlte, es loswerden, aber leider funktionierte es nicht.

Nachdem ich eine ganze Woche keine feste Nahrung zu mir genommen hatte, fuhren meine Eltern mich ins Krankenhaus. Ungewollt hatte ich ihnen schon wieder so große Sorgen bereitet.

Zum Glück brauchten die Ärzte eine Zeit lang, um mich auf alle Krankheiten zu untersuchen und würden deshalb erst später damit anfangen mir Psychologen auf den Hals zu hetzen. Die konnte ich nämlich jetzt am wenigsten gebrauchen. Da musste ich alleine durch.

Irgendwann, als ich gerade dabei war, mein Leben in den schwärzesten Farbtönen zu malen, schaute ich auf, und da stand sie. In der Tür. Schweigend kam sie näher und setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Ich fühlte mich unter ihrem undeutbarem Blick noch schwächer als vorher, doch jetzt war die Möglichkeit gegeben, mich zu erklären. Das hatte sie verdient, sie traf keine Schuld daran, dass unsere Freundschaft so jung starb. Ich war ihr eine Erklärung schuldig, und zwar eine ehrliche. Mein Gedanken überstürzten sich, als ich nach richtigen Worten suchte.

„Das was ich jetzt sagen werde, fällt mir sehr schwer, also bitte lass mich ausreden.

Das was passiert ist … . In diesem Augenblick war ich nicht in einem Zustand kurzzeitiger geistiger Verwirrung, auch wenn das die Erklärung so viel leichter machen würde. Es war kein Versehen und auch keine Kurzschlussreaktion, na ja, das vielleicht schon. Aber es war nichts Unbedeutendes und auch nicht Etwas, über das ich irgendwann lachen kann. Ich wollte das nicht und hab es trotzdem getan. Du brauchst mir nicht zu verzeihen und dich trifft auch keine Schuld. In Zukunft lass ich dich in Ruhe und ich such mir eine anderen Freundeskreis oder bleibe alleine, aber du musst keine Angst haben, mich zu treffen.

Die Wahrheit ist nämlich, ich bin lesbisch und ich habe mich in dich verliebt. Es tut mir leid.

Ich wünsche dir viel Glück im Leben, um mich brauchst du dich nicht mehr zu kümmern.

Aber bitte, bitte verrate mich nicht.“

Sie schien etwas geschockt, aber keineswegs böse, was ich eigentlich erwartet hatte. Eher noch etwas besorgt.

„Was redest du denn für einen Quatsch? Dir braucht doch nichts leid zu tun. Und ich will trotzdem mit dir befreundet sein. Deswegen brauchst du dich doch nicht so schlecht zu fühlen. Da mache ich mir schon eher Vorwürfe machen, weil ich deine Hoffnungen zerstören muss. Du bist zwar echt nett und auch ziemlich süß, aber ich bin in jemanden anderen verliebt.“

„Ich hatte nie Hoffnung, ich habe höchstens ein bisschen geträumt und dagegen hab ich immer angekämpft.“

„Du darfst deine Gefühle nicht bekämpfen, da wirst du nur krank davon, so wie jetzt. Und nur, dass das klar ist, du kannst mir vertrauen. Weißt du, ich versteh dich auch ein bisschen, denn ich bin in Nico verliebt und will aber unsere Freundschaft nicht zerstören. Das wird wohl nie was werden.“

In meinem Kopf fingen die Räder an, sich zu drehen. Diese Nachricht war in gewisser Weise großartig, denn, wenn auch nicht für mich, bestand für zwei andere Personen die Chance auf ein Happyend und ich hatte es in der Hand. Ich wusste jetzt etwas, das die anderen beiden nicht wussten, nämlich das ihre Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten. Fast musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Diesmal musste es nicht böse ausgehen. In Ella hatte ich nun auch eine wahre Freundin, nicht so eine falsche Schlange, wie damals. Jetzt musste ich es nur noch geschickt anstellen und den anderen ein bisschen Starthilfe geben.

„Danke, mir geht’s besser, aber ich würde trotzdem gerne alleine sein. Wir sehen uns irgendwann später. Und mach dir keine Sorgen, ich werde bestimmt wieder gesund.“

Ella nickte, nahm kurz meine Hand, drehte sich dann um und ging.

Nachdem sich innerhalb der nächsten zwei Tage mein Zustand plötzlich und unerklärlicherweise verbessert hatte, entließen mich die Ärzte mit einem ungläubigen Kopfschütteln nach Hause.

Ich war in den Abgrund gefallen und von einem Netz aufgefangen worden, von dem ich nicht vermutet hatte, dass es überhaupt da war.

 Ich brauchte einen Plan, wie ich den beiden am besten die Augen öffnen konnte, aber mir fiel nichts ein. Nachts lag ich wach und grübelte und auch tagsüber war ich geistig meistens abwesend. Es war mir so wichtig, dass wenigstens irgendjemand am Ende glücklich war. Garantiert würde das nicht ich sein, aber die beiden konnten es.

Inzwischen war es Hochsommer und schon sehr nah am Ende des Schuljahres. Wir saßen zu Dritt, Mona fehlte, was ich eigentlich ganz gut fand, in einer Freistunde draußen auf einer Wiese. Außer uns war niemand da. Es war furchtbar heiß. Die Hitze lastete schwer auf uns allen und machte uns müde und langsam. Jede Tätigkeit wäre mühsam. Nur das Summen der Insekten störte die Stille.

Wir verbrachten zwar die Zeit miteinander, doch es herrschte nur Schweigen. Nicht die Art Schweigen, die durch zufriedenes Dösen in der Sonne entstand, sondern diese peinliche Stille, in der sich niemand zu reden traut. Mein Geheimnis schien ihnen Unbehagen zu bereiten, sie schlossen mich nicht irgendwie aus, aber es war ihnen unangenehm, dass sie es wussten. Sie wussten ja auch nicht, dass der jeweils andere es wusste. Oder es war, weil ich ihr Geheimnis kannte.

Mein Kopf war so leer, das Denken fiel mir schwer, also beobachtete ich nur meine Umwelt. Nico machte eine Bewegung und streifte Ella aus Versehen mit dem Ellenbogen. Sie blickten sich erschrocken an und Nico entschuldigte sich sofort, aber Ella wehrte ab. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich in letzter Zeit wie rohe Eier behandelten.

Plötzlich wurde ich wütend. Ich saß hier und grübelte, wie ich ihnen helfen konnte, glücklich zu werden, obwohl sie das eigentlich nur alleine konnten, und sie hockten hier blind vor dem Offensichtlichen.

Ich stand ruckartig auf: „Hört ihr jetzt endlich damit auf!“

Sie starrten mich völlig perplex an.

„Ich versuche nun schon einiger Zeit eine Weg zu finden, dass ihr glücklich werdet. Aber warum soll ich das machen? Nur weil ihr selbst es nicht schafft endlich mal die Augen aufzumachen und zu handeln? Ihr seid so mit euch selbst beschäftigt, dass ihr gar nicht seht, was um euch herum passiert. Ich war auch immer sehr gut darin, mich in meinem Unglück zu versenken, aber bei euch ist das jetzt wirklich lächerlich. Seht ihr denn nicht, dass eure Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen? Jetzt reißt euch verdammt noch mal zusammen und werdet glücklich miteinander!“

Ich stand auf und ging ins Schulhaus zurück. Ich wusste gar nicht, was meinen Wutanfall verursacht hatte, aber vielleicht half das besser als jeder Plan.

Noch während ich zur Tür ging platschten mir die ersten warmen Regentropfen ins Gesicht. Schnell rettete ich mich ins Haus und spionierte durch ein Fenster, was draußen vor sich ging.

Die beiden waren aufgestanden und blickten sich erstaunt, aber auch leicht erfreut an, zumindest hoffte ich das. Durchnässt vom Regen gingen sie die paar Schritte aufeinander zu, bis sie ganz nah beieinander waren. Dann strich Nico Ella das nasse Haar aus dem Gesicht und sie wischte mit ihrem Finger die Regentropfen von seinen Lippen. Als sie sich schließlich küssten, versetzte es mir einen gewaligen Stich ins Herz. Ja, es tat weh sie so zu sehen und für einen Augenblick wünschte ich mich an Nicos Stelle, aber dann sah ich wie ihre Augen glänzten und ich sah die Freude in ihren Gesichtern. Erst jetzt schienen sie den starken Regen zu bemerken und Hand in Hand flüchteten sie sich ins Gebäude, bis sie patschnaß und lachend vor mir standen.

„Komm lass dich umarmen“ sagte Nico und beide breiteten ihre tropfenden Arme aus.

„Nein danke, lieber nicht“ gab ich zurück und plötzlich war mir nach Lachen zumute. Ella und Nico stimmten mit ein und so schnell, wie der Regen gekommen war, ging er auch wieder und machte Platz für die Sonne. Als ich wieder aus dem Fenster sah war wie von einer unsichtbaren Hand ein Regenbogen an den Himmel gemalt. Das war mein Zeichen.

Auch ich würde meinen Weg gehen und irgendwann glücklich sein. Das war alles, was ich wusste und es war alles, was ich zu wissen brauchte.

Epilog

Ich hatte sie einige Jahre nicht getroffen, bis ich sie einmal wiedersah. In einem Park, unterwegs auf einem Sandweg, der von Ahornbäumen gesäumt war. Vom Sand war jedoch kaum noch etwas zu sehen, denn der Boden war von orangeroten und gelben Blättern bedeckt. Der Tag war trocken und windig, doch die Sonne verschönerte diesen einen der letzten Tage des Oktobers.

Ich erkannte sie sofort, auch aus der Weite, sie war nicht allein, sondern ging bei einem Mann untergehakt. Plötzlich wirbelte ein Windstoß das Laub auf und sie ließ ihn los, um lachend mit den Blättern um die Wette zu tanzen.

Gerade als sie wieder an die Seite des Mannes zurückgekehrt war und den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte, erblickte sie mich. Einen kurzen Augenblick dauerte es schon, dann erkannte sie mich auch und lief freudestrahlend auf mich zu, um mich zu umarmen. Als wir uns aus der Umarmung gelöst hatten, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete mich. Ich besah mir Ella ebenfalls sehr genau, sie sah fast noch genauso aus wie damals, nur die Lachfalten waren mehr geworden, doch das Blitzen in ihren Augen war noch genau das Gleiche und ihr Locken strahlten immer noch im Sonnenstrahl.

„Das hätte ich jetzt gar nicht gedacht! Ley, dich zu sehen, ich hätte dich fast nicht erkannt, du hast dich arg verändert, aber gut siehst du aus.“

„Du aber auch.“

Wir lachten beide.

Inzwischen hatte uns auch der Mann erreicht. „Das ist Marco“ stellte sie ihn mir vor, „mein Verlobter“ fügte sie hinzu und lachte ihr tolles Lachen, das mich früher immer so aus der Bahn geworfen hatte.

Ich reichte ihm die Hand. „Nenn mich Ley. Wir zwei sind, nun ja … alte Schulfreunde.“

Sein Händedruck war warm und fest und er lächelte mich ernsthaft erfreut an.

„Glückwünsche zur Verlobung.“

„Wenn du willst, lad ich dich zur Hochzeit ein“ entgegnete Ella sofort und bat erst nachher durch einen Blick um die Einverständnis von Marco.

„Na klar, ich freu mich“ sagte er, nun zu mir gewandt.

Mit einem verlgenen Lächeln gab ich zu: „Ella, jetzt tut es mir aber wirklich leid, dass du bei meiner Hochzeit nicht dabei warst, es wäre sicher schön gewesen.“

„Was, du bist verheiratet? Seit wann?“

„Seit eineinhalb Jahren jetzt schon fast“ ich kramte aus meiner Jackentasche ein Foto hervor, das an den Ecken schon ein bisschen abgegriffen war, „das ist meine Frau Miriam“.

Das Foto zeigte uns bei unserer Hochzeit. Miriam sah wunderschön aus mit Blumen in ihren braunen Haaren. Wir hatten beide das gleiche, cremeweiße, schlichte Kleid aus glattem Stoff an, nur ein farbiger Streifen um die Taille war ein kleiner Unterschied, bei mir dunkelblau, bei ihr violett. In den Händen hatten wir beide jeweils einen Strauß weiße Lilien. Meiner Meinung nach hatten wir zwar ausgesehen wie Brautjungfern, trotzdem war es toll gewesen, der schönste Tag in meinem Leben. Geheiratet hatten wir an einem wunderschönen Tag im Mai mit Sonnenschein und ich war fast geplatzt vor lauter Glück.

Ella betrachtete intensiv das Bild, schwieg dazu.

„Und das ist auch eine Person, die in unserem Leben bald eine riesige Rolle spielen wird“ sagte ich und reichte ihr ein zweites, neueres Bild. Auf dem Ultraschallbild konnte man kaum etwas sehen, ich wunderte mich immer über das, was Ärzte dort alles erkennen konnten, doch Ella wusste natürlich sofort, was es bedeutete.

Sie starrte mich völlig überrascht an. „Wer …?“, brachte sie heraus, bevor sie tief durchatmete und sich sammelte, um einen vollständigen Satz zu bilden.

„Wer von euch beiden ist es ?“

„Sie. Und ich werde sie in jedem Augenblick unterstützen“

Ich lächelte.

„Wir werden Mütter“ fügte ich nochmals ganz stolz hinzu.

„Ich fass es nicht, das ist so toll für dich. Wow! Komm her, lass dich nochmal umarmen.“

Marco musste leider bald wieder los und so lächelten mich beide an, Ella hakte sich erneut unter. Mit ihrer freien Hand gab sie mir ihre Visitenkarte.

„Wir müssen jetzt gehen, aber ruf mich ganz bald mal an, ok? Und alles Gute noch.“

Sie wandten sich zum gehen, winkten nochmal und ich schaute ihnen noch kurz nach, drehte mich dann aber auch um.

Leise ein Lied summend und glücklich machte ich mich auf den Weg nach Hause, wo meine Zukunft auf mich wartete, der ich mit einem Flattern im Bauch entgegensah.

Ich war bereit.


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Lillian für die schöne Geschichte.

Wenn auch Ihr Eure Kurzgeschichten auf gorizi.de veröffentlichen möchtet, schreibt eine E-Mail an Sarah.

Leonie und Melanie. Zu verschieden für die Liebe (Teil 4)

4. Leonie

Mal im Ernst. Der Schultag heute war so was von schräg. Erst spricht Melanie kein Wort mit mir und auf einmal macht sie einen auf best friends – aber sie ist ja auch nett und wir haben viele Gemeinsamkeiten; auch wenn es anfangs kaum zu glauben war.

Es ist zwar nicht das Gleiche, aber sie schaut gerne Fußball und da ich ja Fußball spiele, habe ich sie zu unserem nächsten Hallenturnier am Samstag eingeladen. Außerdem mögen wir beide die gleiche Band – was sie verwunderte, denn bei ihr sind wohl alle Lesben Männerhasserinnen. Aber als das aus dem Weg geräumt war, haben wir uns gut unterhalten und ich denke, ich konnte ihre Vorurteile vorerst aus der Welt schaffen. Aber auch wenn das dann weg wäre, glaube ich, dass sie was gegen mich hat. Aber das wird sich sicher noch legen, bis sie gemerkt hat, dass ein Homo ein ganz normaler Mensch ist. Das muss sie eben noch lernen.

Ob sich das ändern würde wenn sie den wahren Grund des Schulwechsels wüsste??


Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.

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Das Mädchen, welches die Farbe Orange trug

Judy

Es regnete. Kleine, feine Tropfen. Sie tanzten in den Blättern der Bäume, umarmten schmale Grashalmen, klopften zart an Fensterscheiben und fielen fast hüpfend zu Boden. Auch in Judys Haaren klebten sie. Sie klebten nicht direkt, sondern zierten eher das schwarze kurze Haar, welches durch das Haar Gel wirr in alle Richtungen abstand. Manche Regentropfen sammelten sich auch in der Kapuze ihres schwarzen Pullis. Judy lief über den nassen Weg, der nun leicht rutschig war. Ihre Schritte waren jedoch sicher. Fest und rasch ging sie, als hätte sie es eilig. Wer Judy allerdings kannte, der wusste genau, dass sie es nie eilig hatte. Nichts brachte Judy dazu es eilig zu haben, denn sie hatte nichts wofür es sich zu eilen lohnte. Weder eine Familie, die sehnsüchtig auf sie wartete und sich sorgte, wenn sie sich verspätete noch gar ein wirkliches Zuhause. Diese Erkenntnis, die Judy sich immer wieder vor Augen führen musste war schmerzhaft, jedoch nicht so sehr, dass sie es jemals wagen würde ihren Kummer in Alkohol und Drogen zu ertränken. Sie würde nicht das tun, was viele verlorene Seelen taten, nicht das tun, was ihre Mutter getan hatte. Judy lachte bitter auf. Eher die Frau, die sie ausgetragen hatte. Die Frau, die niemals Judys Mutter werden würde. Judy war nur ein Kind von Vielen, das Ergebnis eines ungeplanten Ereignisses unter Alkoholkonsum, wenn man es mal nett ausdrückte.
Judy blieb stehen, einmal um nochmal die feuchte Luft einzuatmen und um noch ein paar Regentropfen einzufangen, dann betrat sie Ed’s Laden. Es war nicht direkt ein Laden und Ed hieß in Wirklichkeit auch nicht Ed, sondern Erich-Dominik, was er aber untragbar und als Piercer und Tätowierer viel zu peinlich fand. In dem Tattoo-Studio war es warm und das Licht war etwas gedämpft. Ed war gerade mit einem Kunden beschäftigt, Maxi und Pi ebenfalls, weshalb Judy einfach hinter dem Tresen vorbei marschierte und sich ein Glas Wasser aus der Küche holte. Sie setzte sich in einen breiten Ledersessel und nippte an ihrem Wasser. Ihr Blick huschte über die vielen Zeichnungen und Motive, die Ed zu Papier gebracht hatte. Einige waren auch von Pi, aber man erkannte genau Ed’s Stil, seine Vorliebe zur Alternative und einer kleinen Prise Verrücktheit. Judy liebte es. Aber auch Pi sollte man nicht unterschätzen, jedoch lernte sie noch.   „ Na, hast du dich mal wieder rein geschlichen und was aus der Küche stibitzt?“. Judy musste nicht aufstehen und sich umdrehen, um zu wissen, wer da mit ihr gesprochen hatte. Sie würde Ed’s kehlige Stimme überall erkennen.  „ Nur ein Glas Wasser!“, versicherte Judy ihm. Ed klopfte ihr auf die Schulter und ließ sich in den anderen Ledersessel plumpsen. „ Magst du nicht lieber eine Cola?“. Ed pfriemelte an seinem linken Ohrpiercing herum. „ Zu süß!“, sagte Judy knapp. „ Du bist komisch!“. „ Und du nicht?“, fragte Judy zurück. Beide lachten. „ Hast du heute noch viele Termine, Ed?“. Er zuckte mit den Schultern. „ Es geht! Wieso? Willst du ein Piercing?“. Judy lachte. „ Nur so“. Judy nippte weiter an ihrem Wasser. Ein Schweigen breitete sich aus. „What’s going on?“.  Pi polterte herein. Judy musste schmunzeln. Wie lässt sich Pi bloß am besten beschreiben? Knalliges, pinkes Haar, welches sie immer zu verrückten Zöpfen geflochten hatte. Schlank, mittelgroß, immer roter Lippenstift, pinker Kajal und ihr Lippenpiercing plus das tätowierte Herz auf ihrer Schulter. „ Damit ich die Liebe immer bei mir habe!“, hatte Pi Judy mal erklärt. Ja, das war Pi, manchmal etwas vorlaut, aber doch süß! Wäre Pi nicht vergeben hätte Judy sich doch glatt an sie ran gemacht. „ Also?“. Ed erhob sich. „Mittagspause, meine Liebe!“. Pi schmollte. „ Noch was vor heute?“. Sie sah Ed an. „ Nach Feierabend ab auf die Coach!“, sagte dieser. „ Und du, Judy?“, fragte Pi. „ Ich gehe auf den Handwerker-Markt in die Stadt!“. Pis Gesicht erhellte sich. „ Cool! Ich komme mit!“. Ed räusperte sich. „ Meine liebe Pi, hast du nicht noch eine Verabredung?“. Pi schmollte erneut. Ed grinste. „ Zickenalarm, was?“.  „ Hör auf!“, zischte Pi. Ihre gute Laune schien dahin gerottet zu sein. „Jaja…“, kicherte Ed. „ Was ist daran witzig, Ed?“, keifte Pi. „ Ich weiß, warum ich keine Freundin habe!“, meinte dieser nur achselzuckend. „ Judy hat auch Keine!“, sagte Pi pampig. „ Also, gehe du auf deinen Markt mal alleine!“. ZACK…Pi rauschte davon. Ed und Judy wechselten einen Blick und sofort erhob Judy sich. „ Ich haue mal ab! Danke für das Wasser!“.
Und auch sie war weg!

Zwischen Bretzeln und Kakao

Judy war mit dem Bus in die Stadt gefahren.  Sie hatte auf einem der fleckigen Sitze gesessen, Kaugummireste auf dem Boden gemustert und mit einem halben Ohr dem trübseligen Gespräch zweier älterer Damen gelauscht. Als der Bus endlich hielt, sprang Judy hinaus. Die Luft war immer noch feucht vom Regen, jedoch wirkte sie jetzt noch frischer nach dem muffeligen Gerüchen, die Judy im Bus hatte einatmen müssen. Judy holte tief Luft, zupfte ihren schwarzen Pulli zu Recht und überquerte die Straße. Sie sah auf ihre ausgelatschten, schwarzen Chucks, während sie ging. Um sich herum nahm Judy nur ein wirres Stimmengewirr wahr. Kinder, die bettelten, dass man ihnen ein Eis kaufe. Alte Frauen bei Kaffeekränzchen, die ihre Cappuccinos schlürften und tratschten.  Ehepaare, die sich entweder stritten, sich ein Glas Wein gönnten oder gemeinsam Schmuck kauften. Auch Gerüche wimmelten umher. Gemische aus warmen Gebäck, Würstchen, Kakao, Wein, Zuckerwatte und frisch ausgetretenen Zigarettenstummeln. Judy blickte auf und schlurfte langsam an den Ständen des Handwerker-Marktes vorbei. Gierig betrachtete sie die Handarbeiten, die Fertigkeiten aus Wolle, Leder und Silber.

Judy wusste, dass sie sich all das nicht leisten konnte, dass nur ein paar vereinzelte Münzen in ihrer Hosentasche klimperten. Trotzdem wollte sie alles bestaunen, alles in sich aufsogen. Ihr Blick huschte begutachtend umher, um bloß nichts zu verpassen. Als sie bereits den ganzen Handwerker-Markt abgelaufen war und alles gesehen hatte, was man nur sehen konnte, setzte Judy sich auf eine Bank und betrachtete das herrliche Treiben. Die Menschenmassen, die an den Ständen vorbei strömten, die Tauben, die verlorene Gebäckkrümel aufpickten. Judy schloss die Augen. Die Geräusche und Gerüche umschwebten sie nun wie eine Wolke. Sie konnte allerdings nicht sagen, ob sie diese Wolke mochte oder nicht.  Als Judy die Augen nach einer Weile wieder aufschlug musste sie sich erst einmal wieder an die Helligkeit des Tages gewöhnen, obwohl der Himmel doch nur aschgrau war. Judys Blick wanderte erneut umher und blieb am Bretzel-Stand stehen. Dort stand eine kleine, zarte Person mit wilden dunklen Locken, einer Käse-Bretzel in der einen Hand, ein Becher Kakao in der anderen Hand und starrte sie an. Judy schärfte ihren Blick, starrte zurück. Rasch wand das Mädchen ihren Blick ab, wie ein scheues Waldtier. Doch Judy schaute nicht weg, sondern betrachtete das Mädchen genauer. Sie wirkte so als hätte die scheinbar schlafende Judy, die auf einmal zurück starrte sie aus der Fassung gebracht. Sie war nicht groß und hatte auch nicht viel auf den Rippen, was sie umso verletzlicher machte. Die dunklen Korkenzieherlocken, die ihr scheues Gesicht umrahmten, sahen aus wie eine sturmzerzauste Löwenmähne, was sie jedoch auch nicht stark wirken ließ. Ihre langen, schmalen Hände umklammerten die Käse-Bretzel und den Becher Kakao fest und ihr Blick war mit größter Mühe auf den Boden gerichtet. Wäre das Mädchen ein Tier, dann wäre es ein Reh. Wäre das Mädchen ein Fabelwesen, dann wäre es eine vorsichtige Elfe. Wäre das Mädchen eine Farbe, dann wäre es fliederfarben.

Judy schaute weiter, wollte unbedingt in das scheue Gesicht sehen, welches immer noch dem Boden zugewandt war. Judy blendete alles um sich herum aus, konzentrierte sich nur noch auf das Mädchen. In diesem Moment hob dieses ihren Kopf und blinzelten an ihren Locken vorbei in Judys Richtung. Ihre Augen waren braun wie schmelzende Zartbitterschokolade, ihr Blick war unsicher. Kleine, vereinzelte Sommersprossen zierten ihr mittlerweile blasses Gesicht. Ihre Lippen, die leicht glänzten, zitterten. Judy entdeckte ein Muttermal, welches an dem Hals des Mädchens unter ihrem orangen Halstuch hervor lugte. Und während Judy sich fragte, warum sie ausgerechnet die Farbe Orange trug, ergriff das Mädchen die Flucht und entwand sich Judys durchdringendem Blick.

Verwirrung

Judy taumelte zum Bus und ließ sich dort erschöpft auf einen freien Sitzplatz am Fenster fallen. Sie war ganz durcheinander, fühlte sich benommen. Der Gedanke an dieses Mädchen berauschte sie. Immer wenn Judy sich ihr Gesicht vor Augen führte, verschwamm alles um sie herum. Judy fühlte sich schuldig. Wie hatte sie dieses Mädchen nur so anstarren können? Sie hatte es entblößt, war ihr mit ihrem Blick viel zu nahe getreten und hatte ihr ihr Schutzschild entrissen. Doch andererseits hatte Judy einfach nicht wegschauen können. Sie hatte ihre entflammende Neugier nicht ersticken können. Und immer wieder fragte sie sich, wieso trug das Mädchen die Farbe Orange?
Wieso Orange? Wieso keine andere Farbe? Wieso etwas so Leuchtendes, fast Aufdringliches und Grelles, wenn man lieber durchsichtig sein wollte?
Judy war der festen Überzeugung, dass das Mädchen am liebsten durchsichtig sein wolle.  Diese Unsicherheit und Scheue, die das Mädchen ausgestrahlt hatte, verriet das nur zu gut. Judy fasste sich an die Stirn, denn sie fühlte sich fiebrig. Doch sie hatte kein Fieber, ihre Stirn war kalt. Kälter als die muffige Luft des Buses, kälter als die nasse Regenluft draußen.
Auf einmal verspürte Judy den Drang nach draußen zu springen und los zu rennen. Ihre Beine kribbelten, ihre Füße schienen beinahe taub zu werden. An der nächsten Bushaltestelle sprang Judy aus dem Bus und sprintete los. Die feuchte, frische Regenluft umwehte ihren sich fiebrig anfühlenden Kopf. Das Pfützen Wasser, was ihr an die Beine spritzte, löschte das Kribbeln. Der Druck, den sie auf ihren Füßen spürte, wenn sie Schritt für Schritt weiter rannte, löste die Taubheit. Judy ließ sich ihre Lunge mit kalter Regenluft füllen, ließ sich ihr ohnehin schon kurzes, wirres Haar noch mehr zerzausen und ließ sich alles um sie herum an ihren Ohren vorbei zischen. Judy rannte und rannte, solange bis sie in die ihr allbekannte Straße einbog, solange bis ihr die Luft dann doch weg blieb. Judy keuchte laut, rang nach Atem und lehnte sich an die schmutzige Hauswand. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen etwas blau. Nach etwa 10 Minuten schaffte sie es die quietschende, fast rostige, zerkratzte Haustür zu öffnen und das Treppenhaus hinauf zu stapfen. Judy fühlte sich müde, denn sie war es nicht gewohnt so zu rennen. Wie sollte sie das auch, wo sie es doch nie eilig hatte? Judy war im Dachgeschoss angekommen. Der Flurboden war mit einer feinen Staubschicht bedeckt, da sich sonst Niemand außer Judy hier oben aufhielt.  Die Farbe der Wände blätterte etwas ab, es roch beinahe faulig und die Holztür, die der Eingang zu dem kleinen Zimmer war, welches Judy bewohnte, klemmte. Die Tür knarrte, als Judy sie mit einem Ruck auf stoß.

Was für ein Leben…, dachte Judy. Ein einsames, kleines Zimmer mit einer Dachluke und einer spärlichen Ecke, die mit einem Klo und einem Waschbecken versehen war und somit als Bad und auch als Küche diente. Warmes Wasser hatte Judy nicht, sie war froh überhaupt welches zu haben. Sonst befand sich in dem Zimmer noch eine Matratze, ausgepolstert mit warmen Decken und Kissen, die Judy von Ed hatte. Zudem noch ein kleines Schränkchen vom Speermüll, gefüllt mit Klamotten und allerlei nützlichem Zeugs. Das funktionstüchtige Camp-Koch-Set, ausgestattet mit einem Wasserkocher, einer Pfanne, einem Topf, etwas Besteck, einem Kochlöffel und einem kleinen Gasherd hatte Pi zu der kleinen Behausung beigesteuert.

Ob das Mädchen wohl auch mit einem Camp-Koch-Set kochte? Judy schüttelte energisch den Kopf. Sicherlich nicht. Wahrscheinlich lebte es in Saus und Braus, wurde bekocht und bekam so viel Geld, dass es sich über 80 Käse-Bretzeln am Stück leisten könne. Judy pfefferte ihre Chucks in eine Ecke und ließ sich auf ihre Matratze fallen. Erneut tastete sie ihre Stirn ab, die immer noch kalt war.

Warum dachte sie, dass sie Fieber habe? Nur weil sie an dieses Mädchen dachte? Das Mädchen mit den wilden Locken, den Schokoladen-Augen, dem scheuen Blick und dem orangenem Halstuch. Je öfter Judy sich das Mädchen in ihre Erinnerungen rief, desto schöner kam es ihr vor.
Das unbekannte Mädchen, welches die Farbe Orange trug, für Judy jedoch fliederfarben war.
Judy war verwirrt.

Niemals aufwachen

Die dicke Fleece-Decke war zu Boden gerutscht oder war eher weg gestrampelt worden. Judy schlief nie ruhig und auch heute schreckte sie aus einem Traum hoch. Es war kein Alptraum gewesen, die sonst Judy so häufig plagten. Es war jedoch auch kein Traum gewesen, den Judy wirklich deuten konnte.

Sie hatte sich in einem Meer aus Farben befunden. Der Himmel war lila gewesen und sie, ein trister schwarzer Fleck war in einer orangenen Welle versunken. Judy rieb sich ihre Augen. Sie wäre gerne noch länger in den orangenen Wellen geschwommen, auch wenn sie einzig und allein nur ein Fleck der traurigsten Farbe war. Schwarz. Viele sagten, dass Schwarz keine Farbe wäre. Judy stand auf, wusch sich mit kaltem Wasser und schlüpfte in ihre Klamotten. Eine schwarze Hose, ein schwarzer Pulli. Sie besaß nur schwarze Kleidung. Während Judy ihre Füße in ihre Chucks zwängte, beschloss sie Schwarz nicht mehr als Farbe anzusehen. Nachdem sie die Holztür zu gedrückt hatte und ihre Hände in ihre Hosentaschen gestopft hatte, sagte sie sich:
„ Orange, das ist eine Farbe!“. Und sie wünschte sich erneut niemals aufgewacht zu sein.

„ So nachdenklich heute Morgen?“, fragte Ed als er Judy eine Tasse Kakao reichte. Er war sowieso verwundert, dass dieses Mädchen sich heute Kakao gewünscht hatte. Ed fiel auch auf, dass er eigentlich noch nie Kakao gemacht hatte. „ Probiere mal!“, forderte er Judy auf. „ Ich habe das noch nie gemacht!“. Judy blinzelte ihren Freund an. „ Ich auch nicht!“. Ed schaute noch verwunderter drein. „ Hast du es denn jemals schon mal getrunken?“. Judy schüttelte kaum merklich den Kopf. „ Woher weißt du dann, dass es dir schmeckt?“, fragte er. Judy zuckte mit den Schultern. Ed lachte auf.
„ Du bist merkwürdig!“. Dann werkelte er weiter in der Küche, machte sich einen Kaffee und schmierte ein paar Brötchen. „ Möchtest du auch Eins?“.

Sie hörte ihren besten Freund nicht. Sie starrte die Wand an, schlürfte ihren Kakao, der ihr sehr gut schmeckte und malte sich aus, was sie dem Mädchen sagen würde, wenn sie ihr noch einmal begegnen würde, was sie sich sehnlichst erhoffte. „ Magst du Eins mit Nutella drauf haben? Oder Marmelade? Die Wurst ist leider schon alle, die hat Maxi aufgefuttert!“. Judy starrte weiter die Wand an. „ Judy?“. Sie hörte nicht. Ed ging auf sie zu, schüttelte sie und brüllte: „ Judy? JUDY!!! Jemand zu Hause?“. Judy schreckte erschrocken hoch.                „ Mensch, Ed, was brüllst du so?“. Ed beäugte sie und bemerkte: „Sehr gesprächig bist du heute nicht! Magst du nun Nutella drauf haben?“.  Judy sprang auf, leerte ihre Tasse. „ Ed, wenn man eine Person sucht, wo sucht man sie dann?“. Ed verstand nicht. „ Häh? Wovon redest du bitte? Nutella oder Marmelade?“. Judy überlegte fieberhaft. „ Meinst du, sie ist da, wo sie gestern auch war?“. In Eds Augen spiegelten sich lauter Fragezeichen. „ Judy, was ist los mit dir?“. Doch Judy war schon auf und davon, rannte fast Pi in der Eingangstür um, die auch nur fragend drein schaute. „ Mädchen!“, meinte Ed kopfschüttelnd und biss in ein fertig geschmiertes Nutella Brötchen.
Judy hingegen marschierte mit raschen Schritten zur Bushaltestelle, um in die Stadt zu fahren.  In ihrem Hinterkopf pochte allerdings immer noch etwas, was sagte „ Was tust du da? Ach, wärst du heute doch niemals aufgewacht!“.

Die Suche

Der Hund des alten Mannes bellte. Sein Fell war zottelig. Judy umging die Bank, auf der der Mann nun saß. Es war die Bank, wo Judy gestern auch gesessen hatte, direkt gegenüber des Bretzel-Standes. Ihr Blick schweifte über den Markt und blieb immer wieder an der Bank oder an dem Bretzel-Stand hängen. Es war noch nicht viel los, was wahrscheinlich daran lag, dass es noch relativ früh war.  Judy ging auf und ab, drehte sich ständig um und versuchte jeden Stand mindestens fünfmal abzuklappern. Schritt für Schritt hetzte sie über die Backsteinpflaster und musste sich dauernd ermahnen langsamer zu gehen und bloß Ruhe zu bewahren. Ein paar kurze Haarsträhnen klebten ihr im Nacken. Judy holte tief Luft und lief noch eine Runde über den Handwerker-Markt.
Sie versuchte alles außer ihren Sehsinn auszublenden, lief ganz automatisch immer weiter. Judy lauschte nur ihrem Herzschlag, der ihr bis zum Halse schlug. Ihr Atem ging relativ schnell, ihr Brustkorb hebte und senkte sich unregelmäßig.

Wo war das Mädchen? Wo war das Orange, was doch nicht zu ihr passte? Wo waren diese vorsichtigen, schokoladenen Augen, in denen Judy ertrinken wollte? Moment. Judy hielt inne. Wollte sie das? In den Augen des wundersamen Mädchens ertrinken? Das hatte sie noch nie gewollt, noch nicht mal bei Christy, mit der sie über ein Jahr zusammen gewesen war. Judy rief sich abermals das Gesicht des Mädchens in ihre Erinnerungen, sah abermals sich diese Augen an. Ja, beschloss Judy. Ja, ich will in diesen Augen ertrinken!

Sie lief weiter, weiter und weiter. Sie suchte. Und nach mehreren Stunden wirkte ihre Suche panisch, unkontrolliert. Die Menschen sahen Judy an, wie sie so über den Handwerker-Markt irrte, sich umblickte. Manche Menschen tuschelten hinter ihrem Rücken oder verzogen die Miene. Judy bekam das alles gar nicht mit, sie war so in ihre Suche vertieft, dass sie alles andere vergaß.

Nach einer weiteren Stunde erfolglosen Umherlaufens blieb Judy stehen. In ihrem Kopf drehte es sich, in ihren Ohren dröhnte ihr wilder Herzschlag , ihre Beine fühlten sich ausgelaugt an, ihr Magen leer und ihre Augen brannten.
Ihr Nacken war schweißnass und klebrig. Judy holte tief Luft.
Was tat sie hier? Irrsinniges Herumrennen? Wofür? Für ein Mädchen, welches sie noch nicht Mals kannte, welches sie nur einmal gesehen hatte? Mit dem sie noch nicht Mals gesprochen hatte? Sie hatte es nur angestarrt. Mehr nicht.
Judy schüttelte den Kopf. Sie war dumm, hatte sich irgendetwas ausgemalt.
Sie blieb doch immer nur der schwarze, traurige Fleck. Was hatte sie sich bloß gedacht? Judy war zum Weinen zumute, doch sie riss sich zusammen, wollte gerade zur Bushaltestelle sprinten als ein orangenes Halstuch in der Menschenmenge aufleuchtete.

Gefunden?

Es pochte in Judys Kopf. Ist sie das? Das Mädchen? Ist sie es?
Judy kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können. Ein brauner Lockenkopf mit einem orangen Halstuch, der sich mit der Menschenmenge bewegte. Sie ist es! Sie muss es sein! Judy eilte los, hastig und irgendwie nervös. Sie durfte dieses Mädchen nicht aus den Augen verlieren, sie durfte es einfach nicht. Judy schnellte an den Menschen vorbei, quetschte sich hierdurch und dadurch, boxte sich den Weg frei. Ein merkwürdiges Gefühlschaos durchflutete sie. Neugier. Verlangen. Sehnsucht. Panik. Angst. Nervosität.
Judy kniff die Augen wieder zusammen. Das Mädchen hatte sich einen Weg aus der Menschenmenge gebahnt und ging jetzt über den großen Marktplatz. Judy rannte los, drängelte, schubste und ignorierte die : „ Pass auf!“, „ Bist du bescheuert?“, „ He, Mädchen!“- Rufe, die man ihr hinterher brummte. Judy rannte weiter und mit einem Mal stand sie vor dem Mädchen. Das Mädchen erschrak genauso sehr wie sie selbst. Verängstigt sah sie Judy an. Verwirrung huschte ihr übers Gesicht. Judy, die immer noch außer Atem war, betrachtete das Mädchen lange. Die wirren Locken, die reine Haut, der schmale Körper, die langen Finger, die Augen wie schmelzende Zartbitterschokolade. Das Mädchen trug eine Jeans, einen olivfarbenen Pullover und ihr orangenes Halstuch. Judy schielte zu dem Hals des Mädchens. Das Muttermal wurde diesmal von ihrem Halstuch bedeckt. Judys Blick wanderte zurück zu dem Gesicht des Mädchens. Ein zartes Engels-Gesicht, liebevoll und doch so scheu. Wärme breitete sich in Judys Körper aus. Je länger sie dieses Mädchen anschaute, desto wärmer wurde ihr. Am liebsten hätte sie ihre Hand ausgestreckt und nach dem Handgelenk des Mädchens gegriffen, doch die fragenden Augen, die sie unsicher anstarrten, ließen Judy sich zusammen reißen. Stattdessen schaute sie einfach nur weiter das Mädchen an, bewunderte es und zählte die vereinzelten, kleinen Sommersprossen, die ihr Gesicht zierten. Es waren genau Acht. Acht kleine Punkte, wie ins Gesicht getupft. Judy musste lächeln. Das Mädchen war so schön. „ Wieso trägst du die Farbe Orange?“, fragte Judy.
Nun waren die Augen des Mädchens nicht mehr unsicher, sondern verwirrt. Sie sagte nichts, schwieg nur und starrte. „ Ich bin Judy!“. Beide Mädchen schauten sich tief in die Augen. Die Wärme in Judys Körper verwandelte sich in Hitze. Ein unglaubliches Gefühl schoss ihr durch die Adern. Sie lächelte das Mädchen an.
„ Komm mit mir?! Ich möchte dir was zeigen!“. Das Mädchen schwieg immer noch und als Judy nach ihrer Hand griff zuckte sie zusammen. „ Darf ich dir was zeigen?“. Judys Finger umschlossen die Hand des Mädchen und sie ging los, langsam und ruhig. Stockend, unsicher und auch etwas verlegen ließ das Mädchen sich von Judy über den Platz und die Straße, hinüber in den Park zu Judys Lieblings Platz führen. Ein gemütliches Plätzchen unter einem Pflaumenbaum am See.
Das Mädchen setzte sich, als Judy sich setzte. Nun lehnten beide nebeneinander am Baumstamm. „ Ist es nicht wunderschön, hier?“, fragte Judy, während ihr Blick über den See schweifte. Enten plantschten im Wasser.
„ Orange ist mir die liebste Farbe…“. Judys Blick schnellte zu dem Mädchen. Da saß sie, die Knie angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, der Blick immer noch unsicher, aber ihre zarten Lippen hatten sich bewegt. Sie hat etwas gesagt. Orange ist mir die liebste Farbe… Judy wurde so warm ums Herz, dass sie es kaum aushielt. Die Stimme des Mädchens war sanft und ruhig gewesen.
„ Ich bin Liliane!“. Etwas zittrig reichte das Mädchen Judy ihre schmale Hand.  Strahlend schüttelte Judy diese. „ Liliane…“, wiederholte Judy flüsternd.
Beide Mädchen sahen sich tief in die Augen. Und während Judy in diesen schokoladenen Augen genüsslich ertrank , fragte sie: „ Warum ist Orange dir die liebste Farbe?“.  Liliane entwich ein Lächeln. Und dieses kurze Lächeln ließ Judys Herz für einen Moment aussetzen. „ Hast du schon mal gesehen, wie die Sonne aufgeht? Die vielzähligen Blüten einer Ringelblume bestaunt? Hast du schon mal lange in ein Lagerfeuer geschaut? Mit den Fingern über die Schale einer Mandarine gestrichen? Eine Wüstenlandschaft bewundert? Trockene Herbstblätter von den Bäumen rieseln sehen? Die feurigen Augen eines Uhus? Der liebliche Bauchfleck eines Rotkehlchens? Konntest du diese einzigartige, frische Schönheit jemals aufsaugen? Nein? Dann kannst du nicht verstehen, warum Orange mir die liebste Farbe ist!“. Jetzt war es Judy die schwieg, die gebannt Lilianes Stimme gelauscht hatte. Und die bemerkte, wie Liliane orange wurde, statt fliederfarben. „ Du bist orange!“, hauchte Judy, die vor lauter explodierenden Gefühlen in ihr drin nicht fähig war lauter zu sprechen. Die Unsicherheit und Scheue zerbrach in Lilianes Gesicht, ihre Haltung entspannte sich.
„ Du bist nicht schwarz!“, sagte Liliane.

Farben

Der Himmel wurde heller. Oder kam es Judy nur so vor? Kam es Judy nur so vor, weil Liliane alles erhellte? Weil Liliane alles orange färbte?
Judy konnte nicht anders als immer wieder zu ihr hinüber zu sehen. Dieses wundersame Mädchen, so natürlich schön und so orange. Wie hatte Judy nur immer glauben können, dass sie fliederfarben war? Vielleicht war sie das auch am Anfang gewesen, doch je länger man sie bestaunte, je länger man sie beobachtete und je mehr sie sich öffnete, desto mehr breitete sich das Orange aus und desto prächtiger wurde es. Und Judy? Was war sie für eine Farbe?
Nicht schwarz…hatte Liliane gesagt. Judy schmunzelte.
„ Was ist?“. Diese sanfte Stimme nahm Judys volle Aufmerksamkeit.
„ Ich bin nicht schwarz!“, flüsterte Judy. Sie lachte los. „ Ich war immer nichts. Für Niemanden hatte ich eine Bedeutung. Ich hatte keine Farbe. Und als ich meinte Eine zu haben, als ich meinte schwarz zu sein, da habe ich mich ihr angenommen!“. Judy lachte wieder auf, es war fast ein bitteres Lachen. Sie senkte den Kopf, schüttelte ihn und senkte ihren Kopf noch ein Stück tiefer.
„ Wie konntest du jemals denken schwarz zu sein?“. Judy riss ihren Kopf hoch. Lilianes schokoladene Augen musterten sie. Nicht voller Angst, nicht voller Abscheu, sondern voller Geduld. Das zuvor scheue, zurückhaltende Mädchen legte langsam ihren Schutzpanzer ab und rückte näher zu Judy heran.
„ Du bist nicht schwarz! Du warst es nie und du wirst es auch nie sein!“. Judys Herz fing wie wild an zu klopfen. Ihr Puls raste. Liliane strahlte eine unglaubliche Wärme aus. Je näher sie an Judy ran rückte, desto kribbeliger wurde ihr. Liliane roch wunderbar. Sie roch nach dem blumigen Duschgel, welches sie wohl am Morgen benutzt hatte. Ihre Locken dufteten nach frischer Regenluft und auch ein bisschen nach einem blumigen Shampoo. Sonst roch sie noch etwas süßlich, wie zarte Früchte an Bäumen, wie Blumen auf dem Feld, wie ein kühler Sommermorgen. Liliane roch auch orange.
Judy musste rasch schlucken. Sie musste den Drang Liliane augenblicklich zu küssen rasch hinunter schlucken. Lilianes Duft kroch ihr wieder in die Nase. Judy spannte all ihre Muskeln an, biss sich auf die Zunge. „ Weißt du, ein Mensch, der auf einer Bank sitzt und die Augen schließt, der schläft nicht. Er tut auch nicht so, denn wieso sollte er, wenn er doch nur genießt? Ein Mensch, der genießt, der kann nicht schwarz sein! Du kannst nicht schwarz sein!“. Lilianes Worte waren wie Messer, die die Fesseln um Judys Brustkorb wegschnitten. Die Fesseln, die ihr einst umgelegt wurden, weil man sie so verletzt hatte. Der Drang Liliane zu küssen war nun umso größer. „ Was bin ich für eine Farbe?“, presste Judy zwischen ihren Zähnen mühsam hervor.
„ Du bist blau! Kein dunkles Blau, sondern eher ein ewiges Himmelblau. Ein verträumtes Blau. So blau wie ein Morpho-Schmetterling oder ein Bläuling, vielleicht noch ein kleiner Schillerfalter. So blau wie die Federn eines Blauhähers und manchmal so blau wie die salzigen Wellen des Meeres“. Judy rang nach Atem, so wunderbar waren diese Worte für sie. Das Kribbeln verwandelte sich in leidenschaftliche Fluten, die sie durchströmten. Judy kämpfte dagegen an. Liliane kam Judy noch näher, griff nach ihrer Hand und blickte ihr tief in die schwarzen Augen. „ Kämpfe nicht dagegen an!“, hauchte Liliane. Ihr Mund war zartrosa. Ihre Augen klar. Judy ertrank in ihrem Blick und konnte sich nicht mehr wehren, sie verfiel ihm und presste ihre Lippen sehnsüchtig auf Lilianes. Und Liliane erwiderte ihren Kuss.
Ein Zusammentreffen zweier Farben. Eine Explosion von Orange und Blau.

Orange und Blau

„ Darf ich dich Lilli nennen?“.  Die beiden Mädchen lagen nebeneinander im feuchten Gras und hielten einander die Hand. „ Nenne mich so, wie du magst!“.
Ein kühler Wind wehte umher. „ Ich nenne dich Lili!“. Die Wangen der beiden Mädchen waren gerötet. Lag es an der kühlen Luft oder eher an den verliebten Küssen? „ Lili?“. „ Ja?“. „ Du bist wunderschön orange!“. „ Judy?“. „ Ja?“.
„ Du bist zauberhaft blau!“. Beide Mädchen lachten. Die Eine mit den kurzen Gel-Haaren, die Andere mit den wirren Locken. Beide ein Lächeln im Gesicht. Das orangene Halstuch war etwas verrutscht, sodass man ihr Muttermal am Hals wieder deutlich wahrnahm.„ Du küsst gut!“, grinste Judy. Liliane schwieg, kaute auf ihrer Unterlippe. „ Ich habe das aber zuvor noch nie gemacht!“, gestand sie. „ Das macht nichts!“, sagte Judy. „ Weißt du was, Lili? Ich war noch nie blau und ich habe zuvor auch noch nie ein Mädchen kennen gelernt, welches orange war!“. Jetzt lachte Liliane auf. „ Weißt du was, Judy? Ich auch nicht!“. Beide Mädchen lachten.  Judy drückte Lilianes Hand leicht. Womit hatte sie dieses wunderbare Mädchen in Orange nur verdient? Womit? Oder konnte man sagen, dass sie es endlich verdient hatte? Das sich endlich das Blatt wendete? Das sie endlich glücklich war? Das sie endlich etwas hatte, wofür es sich zu eilen lohnte? Das sie endlich eine Farbe hatte? Endlich eine Art Zuhause? Endlich ein Mädchen, in dessen Augen sie ertrinken wollte?
Judy konnte es nicht fassen. Dieses Glücksgefühl, diese Liebe, die eigentlich nur durch eine zufällige Begegnung einstanden war. Einer Begegnung zwischen Bretzeln und Kakao. Zufällig? Oder war es Schicksal gewesen?
Liliane drückte Judys Hand leicht zurück. Judy wollte nicht grübeln, sie wollte genießen. Einfach leben, endlich wirklich glücklich sein. Sie würde versuchen diesen Zeitpunkt auszukosten, solange es noch ging. Bevor irgendwelche Fragen auftauchten, man beschloss sich alles voneinander zu erzählen und die Freundin mit nach Hause zu nehmen. Judy würde es tun. Sie würde Liliane alles erzählen, sie mit in den kleinen Raum im Dachgeschoss nehmen, sie würde Liliane Ed, Pi und Maxi vorstellen. Sie würde es tun, mit der Zeit. So etwas brauchte Zeit, schließlich war alles neu. So neu und frisch, wie eine gerade eben erst gestrichene zweifarbige Wand. Jetzt wollte sie es erst mal genießen und bewundern. Und Judy glaubte, dass es auch Liliane so ging. Man fragte noch nicht viel. Man sprach es nicht aus, diese kleinen drei Worte. Warum musste man sich unbedingt aussprechen, wenn man es doch insgeheim wusste? Wenn man es doch fühlte? Und wenn man es doch zeigte? Judy beugte sich zu Lilianes Lippen. Ihre Gesichter waren so nah beieinander. Judys Atem kitzelte Lilianes Wangen. Sie sahen sich verträumt in die Augen und ertranken darin. Ein Lächeln umspielte beide Münder, welches nicht verschwand, als Judy ihre Lippen sanft auf Lilianes drückte.
Ein Explosion zweier Farben, Orange und Blau.


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Leonie und Melanie. Zu verschieden für die Liebe (Teil 3)

3. Melanie

Ja, mein Plan wird aufgehen. Ich muss Leos beste Freundin werden und dann werde ich ihre Geheimnisse ausplaudern – auch wenn sie sagt, sie hat keine; jeder hat welche, aber sie ist ja auch irgendwie nett und ich glaub, ich mag sie auch ein bisschen, aber das ist mir egal. Ich muss stark sein, sie ist eine Lesbe und so passt sie hier nicht rein – also muss sie hier weg, egal wie. Ich denke, ich sollte einen einfachen drei Schritte Plan verwenden.
Schritt1: beste Freundin von Leonie werden
Schritt2: ihre Geheimnisse herausfinden
Schritt3: Geheimnisse ausplaudern und noch was dazu erfinden.

Ergebnis: sie fertig machen.

Na dann, los gehts! Schritt 1: Leos beste Freundin werden.
Der Plan startet jetzt.


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Leonie und Melanie. Zu verschieden für die Liebe (Teil 2)

2. Leonie

Ok, das schien ja ganz gut gelaufen zu sein, keiner hat was gesagt oder gelacht. Außer die eine Blonde da in der dritten Reihe, die hat etwas bestürzt geschaut. Hoffentlich hat sie nicht all zu viel Einfluss auf die Klasse, sonst kann ich einpacken.

Na toll, der einzige Platz der noch frei ist, ist natürlich neben der Blonden, die immer noch so komisch schaut. Da kann man ja nur hoffen das das gut geht.

,,Also Leonie“, fängt Herr Winkler an und ich unterbreche ihn: ,,Leo, nennen Sie mich bitte Leo!“
,,Also, äh Leo, setz dich bitte neben Melanie dort ist noch ein freier Platz, ja?“

Ich gehe auf den Platz neben Melanie zu, doch schon während ich auf sie zugehe treffen sich unsere Blicke. Ihrer sagt alles, er sagt: ,,ich mach dich fertig, egal wie nett du bist, was du tust oder wie du bist!“

Na super das wird ja sicher unglaublich toll.

,,Hi“  hauche ich nur, nachdem ich mich auf den Stuhl sinken gelassen habe. Doch die einzige Anmerkung, die dazu kommt ist ein Nicken in Richtung Tafel, also konzentriere ich mich vorerst auf den Unterricht. Doch nach einer Weile ist das unmöglich, denn überall wird geredet oder es werden Zettelchen geworfen.

Auch ein paar kommen zu mir geflogen, aber ich habe sie nicht beantwortet, denn woher soll ich wissen, wer Sina ist und wer Paul und dann soll man auch noch wissen, wo die sitzen? Außerdem stand sowieso nur blödes Zeug drin. Zum Beispiel: ,,Wie ist es so als Lesbe?“ oder ,,Hast du es dir ausgesucht, lesbisch zu sein?“ Darauf wollte ich auch gar nicht antworten. Leider kam ich dann in der ersten Pause nicht mehr drumherum, alle Fragen zu beantworten.  Man muss aber auch sagen, dass alle sehr nett sind. Aber ich war trotzdem froh, dass Melanie dann kam und mich sozusagen befreite und mir die Schule zeigte – außerdem haben wir uns super verstanden und über alles Mögliche geredet.
Was ich aber auch irgendwie komisch fand war, dass Sie den ganzen Unterricht lang kein Wort mit mir redet und jetzt einen auf beste Freundin macht. Ob sie mich vielleicht doch mag und ich mir das alles nur einbilde.

Ich sollte einfach erstmal abwarten und schauen was passiert, vielleicht war sie heute auch einfach nur schlecht drauf?


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Leonie und Melanie. Zu verschieden für die Liebe (Teil1)

1. Kapitel: Melanie

„Oh man“, denke ich nur als unser Mathelehrer Herr Professor Doktor Winkler durch die Tür ins Klassenzimmer stürzt. Wie immer hat er ein durchgeschwitztes Hemd an und obwohl es Montag erste Stunde ist, sieht er aus, als ob er gerade aus dem Fitnessstudio kommt. Leider sieht sein restlicher Körper nicht so aus.

Das einzig Gute an ihm ist, er hört und sieht nicht mehr sehr gut – also kann man super mit den anderen reden und Zettelchen schreiben. Hey! Aber wer kommt denn da nach ihm ins Klassenzimmer? Etwa jemand Neues mitten im Schuljahr? Das ist ungewöhnlich, aber der oder die sieht echt komisch aus. Es ist gar nicht zu erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Ich tippe auf ein Mädchen, denn unter dem weiten Kapuzenpulli kann ich Brüste erkennen. Also abwarten, was der Winkler zu sagen hat: ,,Guten Morgen Klasse, wie ihr seht bin ich heute nicht allein, wir bekommen eine neue Schülerin.“ Ich hatte also Recht, aber bei solchen kurzen Haaren sieht man das gar nicht. ,,Sie heißt Leonie und den Rest kann sie euch ja erzählen, wenn sie will“, beendet Herr Winkler seinen Bericht über Leonie.

Ohne lange zu zögern fängt sie an zu erzählen: ,,Hi, also ich komme aus Berlin und bin hierher gezogen wegen der Arbeit meines Vaters. Ich bin 15 wie die meistens hier auch und ich bitte euch mich einfach nur Leo zu nennen, auch die Lehrer. Achso, und als krönenden Abschluss, weil ich keine Geheimnisse habe, möchte ich euch noch sagen, dass ich lesbisch bin. Ok, das wars auch schon.“

Oh man, Schock was hat sie gerade gesagt? Ja, ok, ich hab’s verstanden, aber das ist echt eine krasse Sache. Naja, jetzt wissen wir wenigstens, dass wir uns vor ihr in Acht nehmen müssen.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 17

Fortsetzungsgeschichte

Noemi Berens lebt ihr Leben, wie sie es möchte. In der
Schule schläft sie, nachts probt sie mir ihrer Band und am Wochenende treibt sie sich auf Festivals herum. Ihre Mutter ist verzweifelt, aber Noemi mag ihr Leben. Sie ist beliebt, hat immer Spaß und will später nicht studieren.

Dann kommt Agnes Wendt neu in die Klasse, die mit ihrem
streng katholischen Glauben nicht auf Gegenliebe trifft.

Kapitel 17: Auf dem Weg zum Arzt

Zu Fuß?

„Nein, Mama. Nein, habe ich nicht, Mama. Ja. Okay. Ich warte einfach hier“, Agnes legte auf. Anscheinend war es ein neuer Volkssport, sie als eine absolut miese Kinderhüterin darzustellen, wenn man dem alten Mann, ihrer Mutter und den Kommentaren des werten Herrn Ex-Pfarrers aus dem Hintergrund Glauben schenken wollte.

Martin weinte wieder, nachdem Agnes ihn durch das Gespräch mit ihrer Mutter daran erinnert hatte, wie weh er sich getan hatte.

Ihre Mutter würde bestimmt eine halbe Stunde brauchen, ehe sie hier sein könnte, und bis dahin war Martin wahrscheinlich vor Schmerzen gestorben. Oder eingeschlafen, denn schwimmen, und das seit beinahe einer Stunde anhaltende Wimmern mussten für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Sie wusste selbst, dass es ihrem Bruder gegenüber nicht fair war, aber in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er einfach still wäre.

Allein würde Agnes bis zum Arzt zehn Minuten laufen. Und selbst mit Martin auf dem Arm wäre sie schneller als ihre Mutter. Sie tippte schnell eine SMS, lud sich ihren Rucksack auf den Rücken, zog Martin seinen an und nahm ihn hoch.

„Komm, wir gehen zu Fuß“, seufzte sie. Er war ganz schön schwer. Und gab sich nicht die geringste Mühe, sich an ihr festzuhalten. Im Gegenteil, er wollte am liebsten einfach sitzen bleiben, und machte sich dahingehend auch lautstark bemerkbar. Nach einer Busstation gab Agnes auf. Mit dem Rucksack konnte sie ihn nicht vernünftig halten. „Wir warten jetzt auf den nächsten Bus“, ordnete sie an. Martin quittierte das mit einem weiteren, lauten Weinen.

Schlechtes Gewissen

Noemi hörte Martin schon lange, bevor sie die beiden an der Bushaltestelle sitzen sah. Nachdem ihr klar war, dass sie für Schuhe weder Geld noch die nötige Ruhe besaß, war sie zur Schule zurückgegangen, aber von Kai war dort keine Spur mehr zu finden. Und da sie ihren Schlüssel zu seiner Wohnung (von dem er nichts wusste) heute morgen liegen gelassen hatte, tigerte sie nun durch die Stadt, auf der Suche nach jemandem, der ihr Unterschlupf gewähren könnte.
„Hallo, Agnes“, grüßte sie beiläufig und ging so unbeteiligt wie möglich an der Bushaltestelle vorbei. Ja, sie war nicht nett gewesen. Und außerdem ging ihr diese Begegnung in der Umkleide nicht aus dem Kopf. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie Agnes echt so verletzt hatte.
Agnes antwortete nicht. Was bildete sich diese blöde Ziege eigentlich ein? Noemi hatte doch ganz klar „Hallo“ gesagt, konnte man da nicht erwarten, eine Antwort zu bekommen?
Gerade wollte sie einen flapsigen Kommentar geben, als Martin von Neuem laut zu heulen begann. „Du hast ja eine ganz schöne Ausdauer“, Noemi ging in die Knie. Martin sah sie mit großen, verheulten Augen an. Für einen Augenblick schien ihn das schwarz geschminkte Mädchen tatsächlich zu beruhigen. Aber dann… erinnerte er sich wieder an seine schrecklichen Schmerzen.
„Tut mir leid“, sagte Agnes. Noemi musterte sie. „Du siehst ganz schön fertig aus“, urteilte sie. „Kann dich niemand abholen?“
Agnes verneinte. „Hm.“
Noemi setzte sich auf den verbliebenen Sitz. Und schwieg.
Und Agnes schwieg auch.
Sogar Martin hatte aufgehört zu weinen.
‚Los, sag was‘, rief eine Stimme in Noemis Kopf. Das war ihr schlechtes Gewissen, das sie in die Knie zwang, bis sie ihren kleinen Fauxpas mit dem Foto wieder ausgebügelt hatte.
‚Mach schon‘, rief sie immer wieder, die dumme Stimme. ‚So schlimm kann’s nicht sein! Und wahrscheinlich will sie deine Hilfe ja gar nicht!‘

Noemi seufzte. „Kann ich… dir irgendwie helfen?“, spulte sie eine Höflichkeitsfloskel ab und warf ihrem schlechten Gewissen einen vorwurfsvollen Blick zu.
Agnes sah sie verblüfft an. Sie hatte ja mit vielem gerechnet. Mit einer schadenfrohen Bemerkung, mit einer grinsenden, selbstzufriedenen Noemi, die in den nächsten Bus stieg. Aber nicht mit sowas.
„Ja, schon“, und sie sah Noemi dankbar an, „du könntest meinen Rucksack nehmen. Der Arzt ist nicht weit weg, und wenn nachher kann Martin sicher abgeholt werden“, erklärte sie.
Noemi lächelte sie an. ‚Bist du jetzt zufrieden?‘, fluchte sie in Gedanken. Und – ja. Irgendwie war sie genau das. Zufrieden.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 16

Kapitel 16: Andere Sorgen

Tanja

Kai wusste nicht, was er machen sollte. Seit zwei Stunden lief er durch die Schuhläden der Stadt, aber in keinem hatte man Noemi gesehen. Und sie fiel immer auf, meistens, weil sie aufgrund ihres Äußeren für einen Dieb gehalten wurde. Er hatte es nicht geplant, und eigentlich wollte er sie nicht rausschmeißen. Aber gestern hatte Tanja herausgefunden, dass er mit einer anderen Frau zusammenwohnte. Eigentlich war sie nicht besonders eifersüchtig, und auch ziemlich tolerant, aber bei Noemi hörte der Spaß auf. „Sie läuft die ganze Zeit in Netzstrümpfen rum, und ihr haltet Händchen“, hatte sie geschluchzt, „ich will doch die Einzige für dich sein“, ging es weiter, und schließlich endete das Drama in einem großen „Wenn sie, dann ich nicht“ – Finale.

Es lief gerade so gut, und neben Noemi war Tanja die erste Frau, mit der er sich wirklich etwas vorstellen konnte. Sie nicht nur über Nacht blieb, sondern auch Frühstück bekam. Er wollte das nicht aufgeben, nur weil Noemi nicht mit ihrer Mutter klar kam.

„Mailbox“, seufzte er, als er zum dritten Mal Noemis Nummer gewählt hatte. Er gab auf. Irgendwann war auch bei ihm eine Grenze erreicht, und zwar genau jetzt.

„Tanja, Liebes“, säuselte er in sein Handy. „Warte an der Schule, ich komme dich abholen!“ Er sah an sich herunter. Sah akzeptabel aus. Die Linie 249 fuhr gerade über die Kreuzung, als er an der Bushaltestelle ankam. Perfekt. Und wie schnell er selbst die Sorgen um Noemi vergessen konnte, zeigte sich, als er fünfzehn Minuten später vor dem Schultor der St.-Joseph-Schule stand, und seine wunderschöne Freundin in die Arme nahm.

Auf zum Arzt

Agnes wartete am Beckenrand darauf, dass ihr quietschfideler Bruder endlich aus dem Wasser kommen würde. Er hatte wirklich nicht ins Becken gemacht diesmal, weshalb sie sich überlegt hatte, ihn nachher mit einem Eis zu belohnen. Natürlich ohne, dass ihre Mama davon etwas mitbekam, denn Eis gab es nur sonntags bei Familie Wendt.

„Martin, nun komm endlich!“, rief sie. „Du bist ja schon ganz schrumpelig!“ Sie lächelte ihm zu, obwohl ihr eigentlich eher zum Weinen war. Sie war nun offiziell für etwas geoutet, dass sie gar nicht war. Und nur, weil sie noch nie einen Freund gehabt hatte, hieß das ja nicht, dass sie gleich auf Frauen… „Agi! Agi, ich glaub mein Fuß ist kaputt!“, holte ihr kleiner Bruder sie in die Realität zurück. An seinem Knöchel zeichnete sich ein dunkler, blauer Fleck ab. „Und es tut auch ganz weh!“, wimmerte er. Über sein nasses Gesicht liefen ihm Tränen. „Ich bin nur hingefallen, da vorne“, heulte er, „und dann hat es ganz doll geknackt!“

Agnes nahm ihn auf den Arm. „Wir gehen am besten zum Arzt“, erklärte sie. Es sah wirklich nach einem Bruch aus. Vielleicht war es auch nur eine Prellung oder eine Zerrung, aber sie ging vom Schlimmsten aus. „Martin, es ist alles ok, der Arzt macht ihn wieder heile.“ Sie strich ihm über den Kopf, als sie ihm in seine Sachen half. Zum Schluss hüllte sie ihn in ihren Mantel und trug ihn nach draußen. Was sollte sie machen? Mit dem Bus fahren konnte sie vergessen, denn auch wenn Martin erst vier war, war er auf Dauer doch schwer, vor allem mit seinen Schwimmsachen, und, weil er noch immer weinte und sich unter Schmerzen wand. „Martin, jetzt halt mal still“, befahl sie ihm, und erreichte das genaue Gegenteil. Resigniert setzte sie sich in die Bushaltestelle. „Ich rufe Mama an“, erklärte sie, und hoffte, ihn dadurch beruhigen zu können. Aber der kleine Junge weinte nur immer mehr, und schrie. „Mein Fuß ist kaputt, Agi, aua, mein Fuß tut so weh“, jammerte er. Die Leute auf der anderen Straßenseite drehten sich bereits nach ihnen um. Ein älterer Herr, der wohl auch auf den Bus wartete, musterte Agnes kritisch. „Da hätteste wohl nich‘ so früh Mutter werden sollen, wa?!“ lachte er, und sein Husten enttarnte ihn als jahrelangen Raucher. „Selbst schuld, wa?! Und jetz‘ haste das Blag am Hals, wa, und keene Ahnung wasde machen musst!“

Agnes blickte betreten zu Boden. „Er hat sich den Fuß verletzt, und ich bin seine Schwester“, sagte sie, aber ihre Stimme blieb weg, und es war nur ein heiseres Raunen zu hören. Den Mann schien ihre Rechtfertigung ohnehin nicht zu interessieren. Er stieg in die Linie 249 ein, die soeben angekommen war, und Agnes wählte die Nummer ihrer Mutter.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 15

Fortsetzungsgeschichte

Noemi Berens lebt ihr Leben, wie sie es möchte. In der
Schule schläft sie, nachts probt sie mir ihrer Band und am Wochenende treibt sie sich auf Festivals herum. Ihre Mutter ist verzweifelt, aber Noemi mag ihr Leben. Sie ist beliebt, hat immer Spaß und will später nicht studieren.

Dann kommt Agnes Wendt neu in die Klasse, die mit ihrem
streng katholischen Glauben nicht auf Gegenliebe trifft…

Kapitel 15: Es ist raus

Neue Liebe

Nachdem Noemi keinerlei Anstalten machte, ihn loszulassen, drückte er sie sanft, aber bestimmt, von sich weg. „Süße, das geht nicht. Es haben sich… gewisse Dinge ergeben, weißt du. Deshalb wär es besser, wenn du erst einmal zurück zu deiner Mutter gehen würdest…“ Noemi verstand nicht, worum es ging. Sie musterte ihren besten Freund, sah seinen flehenden Blick, seine ineinander vernoteten Hände, die zerrissenen Chucks. „Wieso denn?“, weinte sie, und senkte den Blick. Sie wirkte noch kleiner als sonst. „Ich bin auch ganz leise?“ versuchte sie es. Kai schwieg. Was sollte er auch sagen? Sie würde sich ohnehin nicht umstimmen lassen. „Also ist das abgemacht, ja?“ Schon hüpfte sie wieder von ihm weg. „Ich geh Schuhe kaufen!“, kündigte sie an.

„Warte, Noemi“, bat Kai. Es war wirklich nicht leicht. Und er hatte Angst, sie zu verlieren. „Noemi, ich hab mich verliebt.“ Noemi stoppte, drehte sich aber nicht zu ihm um. „Achso. Okay“, sagte sie, und nur an ihrem bebenden Oberkörper sah er, dass sie weint. „Ich muss jetzt wirklich los. Schuhe kaufen, weißt du. Die warten nicht auf mich“, und mit diesen Worten lief sie davon. Kai hätte sie leicht einholen können; aber er hatte das Gefühl, dass er nicht der richtige war, um sie zu trösten.

Frauenlos

Agnes war voller Tatendrang. Am liebsten hätte sie ihrem Philosophielehrer sofort den Aufsatz gezeigt. Aber zunächst musste sie nach Hause, um ihren kleinen Bruder zu seiner Schwimmgruppe zu begleiten. Sie summte fröhlich vor sich hin, bis sich, kaum, dass sie die Tür aufgemacht hatte, all ihre Hoffnungen zerschlugen: „Guten Tag, Fräulein Agnes“, grüßte Herr Dr. Breitner, nicht ohne ein fieses Grinsen aufzusetzen. „Ich habe Ihre Mutter gerade über ihre… ’schulischen Aktivitäten‘ aufgeklärt“, verkündete er. Ihre Mutter saß auf dem Stuhl, der Pfarrer hielt ihre Hand und fächerte ihr Luft zu. „Ich danke Ihnen, dass sie in dieser… Angelegenheit zu uns gekommen sind. Wir kriegen das wieder hin“, versicherte er, und bedeutete unmissverständlich, dass Herr Dr. Breitner nun überflüssig war. Der verstand, empfahl sich und verließ den Raum.

Agnes setzte sich wortlos an den Tisch. „Wir beide denken, es ist das beste für dich, wenn du auf eine andere Schule gehst“, sagte der Pfarrer. Wir beide denken. Der hatte sie nicht alle. Er war nicht ihr Vater.

„Außerdem haben wir dich in Zukunft mit Maximilian zur Bibelstunde eingeteilt. Du solltest dich von Mädchen in Zukunft besser fernhalten“, erklärte er. Wieder ein Befehl. Agnes hasste ihn. Nur, weil er jetzt trocken war, meinte er wohl, er sei der Oberchamp! „Ja, natürlich“, seufzte sie. In diesem Moment stürzte Martin auf sie zu, der bereits seine froschgrüne Schwimmtasche gepackt hatte. „Heute mache ich auch nicht Pipi im Becken!“, rief er, und zog an Agnes‘ Leinenhose, bis sie, ohne einen weiteren Ton von sich zu geben, mit ihm in ihr Zimmer ging und ihre Sachen packte.


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