Eine neue Kurzgeschichte von Lillian
Die Lehrerin – ich nannte sie Lehrerin, denn ihr Name war so nichtssagend, dass ich ihn schon wieder vergessen hatte – öffnete die Tür und bedeutete mir mit einer Bewegung ihres Arms einzutreten. Ich wusste, die Klasse saß bereits hier und sah mich jetzt kollektiv an, ich jedoch bemühte mich sie zu ignorieren und sah durch die Strähnen meines Ponys auf den Boden. Mit den Augen verfolgte ich die gewundenen, hellen Schlieren, die den dunkelgrauen Linoleumboden durchzogen, während die Lehrerin mich anscheinend der Klasse vorstellte, was ich jedoch nicht bewusst wahrnahm, es interessierte mich ja auch nicht, wie ich hieß und woher ich kam, ich wusste das ja wohl selbst am besten.
„Du kannst dich dorthin setzen“, sagte die Lehrerin jetzt zu mir gewandt und ließ mich wieder zuhören. Langsam, als wäre es mir egal, hob ich den Kopf und folgte ihrem Zeigefinger.
Was ich sah und was ich dabei empfand überwältigte mich.
Oh nein, nein, nein, nein, rief die Stimme in meinem Kopf. Mein erster Impuls war es mich umzudrehen und wegzulaufen, weit wegzulaufen, ohne anzuhalten, immer geradeaus, ohne zurückzuschauen. Doch stattdessen stand ich wie versteinert da, unfähig eine Schritt zu machen. Nach wenigen Sekunden schaffte ich es jedoch mich mit großer Anstrengung aus meiner statuenhaften Haltung zu lösen und mich schlurfenden Schrittes auf meinen neuen Platz zu bewegen.
„Hi, ich bin Ella,“, stellte sich der Grund meiner Schockstarre vor.
„Ich, äh …,“, ich begann zu stocken, weil ich das Gefühl hatte, dass das Klopfen meines Herzens bald bisher noch unerreichte Geschwindigkeiten erlangen würde.
„Nenn mich Ley“, brachte ich schließlich doch heraus und sie lächelte mich an. Doch das machte alles nur noch schlimmer, denn sie hatte dieses Lächeln, das einen sofort dahinschmelzen ließ und das so sorglos und unbefangen wirkt, dass man sich wünscht die Person würde einen mit ihrer Fröhlichkeit anstecken. Lange würde ich es nicht ertragen können dieses Lächeln zu sehen, denn es war unmöglich für mich das zu tun, ohne das es ein Gefühlschaos bei mir auslöste. Mein Bauch begann sich schmerzhaft zusammenzuziehen und ich hatte das Gefühl als würden innerlich unsichtbare Kräfte an mir zerren, denen ich standhalten musste um nicht zu zerreißen.
Sie sah mir in die Augen.
„Das ist aber ein ungewöhnlicher Spitzname.“
Ich wollte nicken, aber ich war gefangen von ihren Augen, so tieftürkis, meergrün wie der Ozean, unergründlich, aber so wunderbar, unerträglich freundlich. In diesen Augen konnte ich mich ewig verlieren.
„Was ist?“ Sie zog ihre Nase kraus und legte ihre Stirn in Falten, was bei ihr einfach nur süß aussah.
„Ich wollte nur wissen, welche Augenfarbe du hast.“
„Ach so.“ Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Unerwarteterweise fand sie mein Verhalten nicht seltsam, was verwunderlich war, denn die meisten Menschen würden mich in so einer Situation nur mit einem unverständigen Kopfschütteln bedenken. Die Lehrerin begann mit dem Unterricht und Ella drehte den Kopf nach vorne, wobei ihr Gesicht verdeckt wurde, durch ihre rotblonden Locken, die jetzt seitlich herunterfielen. Rote Haare hatten für mich immer etwas Feuriges, manchmal auch Aggressives, aber durch den Goldton wirkte es so weich und angenehm, eine schöne Haarfarbe. Bisher schien mir alles an ihr sympathisch, was jedoch ein Problem für mich war.
Angestrengt nach vorne starrend versuchte ich nun trotzdem dem Unterricht zu folgen, doch meine Gedanken liefen im Kreis, wie ein Tiger im Käfig, und so begann es wieder von vorne.
Ich hatte mich schon mal verliebt und hatte eine furchtbare Abfuhr erhalten, schlimmer noch, das Mädchen hatte, nachdem ich ihr meine Gefühle gebeichtet hatte, schlimme Gerüchte verbreitet und mich so von der Schule vertrieben. Sie hatte ich völlig falsch eingeschätzt, ich dachte sie wäre anders, nett und aufgeschlossen, doch ich hatte mich so sehr geirrt und das hatte mir so wehgetan. Darum durfte mir so etwas nie wieder passieren, das hoffte ich so sehr. Wenn es wahrscheinlich auch nicht ganz so schlimm enden würde, positiv würde es auf keinen Fall für mich ausgehen. Und deshalb durfte ich Ella verdammt noch mal nicht so toll finden.
Mehr schlecht als recht stand ich die erste Stunde durch. Der Gong schien mir wie eine Erlösung und ich floh direkt aus dem Klassenzimmer, aber Ella war mir dicht auf den Fersen.
„Warte! Du weißt doch gar nicht wo du hinmusst!“
Resigniert blieb ich stehen und ließ sie aufholen. Den ganzen restlichen Weg aber sprach ich nicht und hielt Sicherheitsabstand zu ihr, ich wollte sie nicht berühren. Natürlich bemerkte sie, das etwas nicht stimmte, ich merkte, wie ihr prüfender Blick mich von der Seite streifte, doch sie blieb zurückhaltend und schwieg ebenfalls.
Als wir im Klassenzimmer ankamen, steuerte ich sofort, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, auf die hinterste Reihe zu, doch Ella rief mich an, stehen zu bleiben.
„Setz dich doch neben mich“ bat sie.
Oh nein, eine Bitte von ihr konnte ich nicht ausschlagen, ich wollte nichts tun, um sie unglücklich zu machen, jedoch würde ich alles tun, um sie zum Lachen zu bringen, das gefällt mir so, obwohl es mich so schmerzhaft an alle meine schlimmen Erfahrungen erinnert. Warum musste ihre Freundlichkeit alles noch unerträglicher machen? Wie konnte ich ihrer Anziehung entgehen? Ich durfte sie nicht so nett finden, es würde mich nur ins Unglück stürzen und mich für lange Zeit daran hindern zufrieden mit meinem Leben zu sein.
Sie strich ihre wunderschönen Locken aus dem Gesicht hinter ihr Ohr. Gerade schien die Sonne so auf ihre Haare, dass sie von goldenem Licht umrahmt war. Oh nein, warum musste ich jetzt bei ihrem Anblick auch noch an Engel denken? Als ob es noch nicht genug wäre.
Der Lehrer riss mich aus meinen Gedanken als er anfing der Klasse eine lautstarken Vortrag über angemessenes Verhalten im Unterricht zu halten.
„Ich habe das Gefühl, manche von euch können einfach nicht die Klappe halten!“
„Na sie doch auch nicht,“, murmelte ich leise,damit mich niemand hören konnte.
Doch dann, als Ella zu lachen anfing, begriff ich, dass sie mich sehr wohl gehört hatte. Nachdem uns der Lehrer mit einem bösen Blick bedacht hatte hörte sie auf, doch in meinen Gedanken klang dieses Lachen noch länger nach. Es war unvergesslich schön.
Und schon wieder fing mein Puls zu rasen an, meine Hände zitterten vor Aufregung und ich senkte meinen Blick, damit niemandem etwas auffiel, falls ich rot werden würde. Da sah ich plötzlich wie in Zeitlupe einen schweren roten Tropfen auf meinem Heft landen.
Nicht schon wieder, dachte ich, während ich zusah, wie die Tropfen immer schneller hintereinander fielen. Ich hielt mir schnell die Hand vor die Nase und als ich aufsah, bemerkte ich die erschrockenen Blicke um mich herum.
„Geh ins Sanitätszimmer,“, sagte der Lehrer etwas schroff. „Und du geh mit,“, fügte er, auf Ella deutend, hinzu und so verließen wir das Klassenzimmer.
Kurz darauf hing ich mit dem Kopf über dem Waschbecken.
„Hast du öfter Nasenbluten?“
„Nein, nur wenn ich aufgeregt bin“, gab ich zu und wandte mein Gesicht zu ihr.
„Na, da hast du schon einmal einen turbulenten ersten Tag und zuhause was zu erzählen,“, entgegnete sie mit einem verschmitzten Grinsen.
Ich drehte meinen Kopf wieder zum Waschbecken und betrachtete das Muster, das die schön rot gefärbten Blutspritzer bildeten. Mich mit wackligen Armen auf den Waschbeckenrand abstützend nickte ich langsam. Aus dem Spiegel, der hier hing, blickte mich ein blasses, blutverschmiertes Gespenst an.
„Willst du dich krankmelden?“
„Nein, das kann ich am ersten Tag nicht bringen“, antwortete ich und begann mir mit einem feuchten Tuch das Blut aus meinem Gesicht und von meinen Händen zu wischen, jedoch zitterten meine Hände sehr, sodass mir dies nicht gründlich genug gelang.
„Soll ich?“, fragte sie und nahm mir das Tuch aus der Hand, bevor ich den Kopf schütteln konnte. Als sie mir vorsichtig die Lippen abtupfte fing meine Haut dort an zu kribbeln und diese Gefühl breitete sich blitzschnell über meinen ganzen Körper aus.
In diesem Augenblick träumte ich davon sie zu küssen: Ich strich ihr vorsichtig die Strähne aus dem Gesicht, die sich wieder gelöst hatte, nahm ihr Gesicht vorsichtig in meine Hände und küsste sie auf ihre samtweichen Lippen, die so rosa waren, wie der Himmel, bevor die Sonne aufgeht.
Als ich mir fest auf die Unterlippe biss, um diese Gedanken loszuwerden, verschwand das Traumbild und ich war wieder in der Realität zuhause. Dieser Wunsch war unerfüllbar und das wusste ich, doch ging mir alles zu schnell und so fiel es mir besonders schwer meine Gefühle zu unterdrücken.
„Ich kann das selber“ gab ich, vielleicht etwas zu forsch, zurück.
Ihre Augenbrauen zogen sich nach oben, sie ließ das Tuch sinken und drückte es mir in die Hand. Ich warf es in den Papierkorb und wusch schweigend meine Hände. Jetzt schien sie beleidigt, oder zumindest schlecht gelaunt zu sein, ich konnte ihre Stimmung nicht exakt einschätzen. Scheinbar war ich ihr irgendwie auf die Füße getreten, das spürte ich, aber ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen, so sehr ich das auch wollte. Was ich wollte, aber eigentlich nicht wollen durfte, war, sie einfach nur lächeln zu sehen. Dieses Lächeln, das mich so schmerzhaft an Vergangenes erinnerte.
Sie schien jetzt auf Distanz zu gehen, eigentlich ganz in meinem Sinne, doch konnte mich das kein bisschen erfreuen. Gerade in diesem Moment wollte ich nur woanders sein.
„Vielleicht sollte ich mich doch abholen lassen.“
Wortlos führte sie mich ins Sekretariat und legte mir das auszufüllende Formular vor die Nase.
„Ich geh zurück in den Unterricht und sag dem Lehrer bescheid“ sagte sie und war schon kurz darauf durch die Tür verschwunden.
Ich seufzte leise und nahm einen Stift in die Hand.
Warum musste das Leben nur so kompliziert sein?
Mein älterer Bruder holte mich mit dem Auto ab, meine Eltern hatten keine Zeit.
„Ist sonst noch irgendwas, außer das du am ersten Tag schon ein Blutbad veranstaltet hast?“ fragte er mit einem schelmischem Grinsen auf dem Gesicht, das er mir jetzt zugewandt hatte, doch ich sah demonstrativ aus dem Fenster und sah zu, wie die Welt schnell vorbeizog.
Plötzlich jedoch wurde ich durch dröhnende Bässe aus meinen versunkenen Gedanken gerissen.
„Tschuldigung, das Autoradio war falsch eingestellt“ murmelte mein Bruder verlegen, nachdem er die Lautstärke geregelt und einen anderen Sender eingestellt hatte. Ich verdrehte die Augen und wollte wieder abschalten, als mich etwas aufhorchen ließ. Der Interpret dieses Liedes besang genau meine Gefühlslage:
„Und immer, wenn mein Herz nach dir ruft
und das Chaos ausbricht in mir drin,
schick ich meine Soldaten los,
um den Widerstand niederzuzwingen.“
Das war genau das, was ich tun musste, wofür ich jedoch nicht stark genug war. Und niemand konnte mir helfen, niemand meine Gefühle verstehen.
Zuhause angekommen nahm ich den direkten Weg in mein Zimmer und sperrte die Tür hinter mir zu. Als erstes drehte ich wie immer die Musik auf und schon nachdem die ersten Töne gespielt wurden merkte ich, dass die Sorgenfalten aus meinem Gesicht verschwanden, ich einfach entspannter war und meine Umwelt fast unmerklich heller erschien.
Ich setzte mich ans Fenster und sah nach draußen. Der Himmel war grau und es nieselte leicht, nur an einer einzigen Stelle durchbrachen die Sonnenstrahlen die Wolkendecke und ich sah einen kleinen blauen Fetzen. Darunter war wunderschön ein leichter Regenbogen zu sehen, man musste sich anstrengen um ihn zu erkennen, doch er zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht.
Diese Momente, die Musik und solche kleinen Dinge, konnten mich kurz glücklich machen, aber immer, wenn ich glücklich wurde, wurde ich auch wehmütig und dachte an Zeiten, in denen das Leben einfacher war und da war ich nicht selten kurz davor zu weinen. Weinen aus Glück und aus Wehmut war zwar besser als weinen aus Trauer, trotzdem wäre es mir lieber, wenn ich emotional nicht so instabil wäre.
Ich kämpfte jeden Tag um mein Gleichgewicht, darum mich selbst nicht zu hassen, mich nur auf die Leute zu konzentrieren, die mich mochten, und nicht alles nur negativ zu sehen.
Es war, als würde ich auf einem Balken balancieren und ich konnte mich in einem gewissen Maß zur Seite lehnen, musste jedoch allem ausweichen, was mich herunterstoßen könnte.
Ich fühlte mich, als wäre Ella von hinten direkt und mit voller Wucht in mich hineingeknallt und als würde ich mich nun nur noch mit zwei Fingern festhalten, um nicht in den Abgrund zu stürzen.
Um dieses sehr reale Gefühl loszuwerden atmete ich tief durch, legte mich auf mein Bett, hörte die Musik und dachte dabei an bessere Zeiten.
Kaum hatte ich die Augen zugemacht klopfte es an der Tür. Es konnte nicht wegen der Lautstärke der Musik sein, denn ich drehte sie nie zu laut auf. Ich wollte mich mit meinen Eltern nicht anlegen, es reichte mir, wenn sie mich in Ruhe ließen.
„Was?“
Jemand drückte die Klinke nach unten und versuchte vergeblich die Tür zu öffnen.
„Kannst du bitte aufmachen?“ fragte mein Bruder.
Genervt und betont langsam stand ich auf – wo war nur die einsame Insel, wenn man sie mal brauchte – und ging zur Tür, drehte den Schlüssel um und bewegte mich wieder in Richtung Bett.
„Ich hab uns was zu Essen gemacht“ begann er, nachdem er sich neben mich auf mein Bett gesetzt hatte. Ich presste demonstrativ die Lippen zusammen und sah auf den Boden.
„Was ist los? Ich seh es dir doch an, dass dich irgendetwas unglücklich macht. Du solltest dich nicht so verschliessen, du hast schon vor dem Umzug nicht mit uns geredet und warst aus irgendeinem Grund direkt froh als wir umgezogen sind. Was war da los? Deine Noten sprechen zwar dafür, aber ich kauf dir trotzdem nicht ab, dass du die Schule aufgrund der schlechten Lehrer sowieso verlassen wolltest. Irgendwann musst du doch mal mit uns reden.“
Jetzt klang er fast verzweifelt.
„Danke, aber ich habe keinen Hunger.“
Sein Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck und seine Augen blickten mich sorgenvoll an, dann stand er auf und ging und ich sperrte die Tür wieder ab.
Ich hatte ihn verletzt und das wollte ich eigentlich nicht, aber jetzt hatte ich wenigstens wieder einige Zeit Ruhe.
Am nächsten Morgen stand ich auf, obwohl ich überhaupt nicht in die Schule wollte. Mit vor Müdigkeit kleinen Augen zog ich mir die Klamotten von gestern wieder an, kämmte mir einmal schnell durch meine kurzen Haare und aß einen Apfel zum Frühstück. Alle anderen waren schon aus dem Haus und so konnte ich mich in Ruhe sammeln und auf diesen Tag vorbereiten. Es würde heute nicht einfach werden, aber ich versuchte das Beste draus zu machen. Besser war auf jeden Fall schon, dass ich wusste, was mich erwartete. Und vielleicht ging es ja bald wieder vorbei, dieser Zustand kurzzeitiger geistiger Verwirrung.
Ich schaffte es, auf dem Schulweg so zu trödeln, dass ich erst kurz vor knapp das Klassenzimmer betrat. Sie saß schon da, neben meinem Platz, und lächelte mich an, als wäre gestern überhaupt nichts passiert. Es schien, als würde sie sich ehrlich freuen, mich zu sehen.
Nachdem ich nochmal kurz durchgeatmet hatte, raffte ich mich sogar dazu auf, leicht zurückzulächeln.
„Geht’s dir heute wieder besser, bist du wieder gut drauf?“
Zur Antwort nickte ich nur, mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.
Sie setzte erneut an: „Ich weiß, dass die neue Situation für dich sicher sehr kompliziert ist und du dich erst eingewöhnen musst. Und du hast hier noch keine Freunde, darum möchte ich deine Freundin sein. Du kannst immer zu mir kommen, wenn was ist, ok?“
Mein Lächeln daraufhin war etwas gequält, denn plötzlich hatte mein Kopf angefangen zu schmerzen.
„Das ist nett von dir, ich wäre auch gerne mit dir befreundet“ und das meinte ich ganz ehrlich, denn das wollte ich wirklich. Das wäre mein Idealszenario, doch dem stand im Moment vor allem ich selbst im Weg.
Ich hatte es geschafft, ich hatte den Tag durchgestanden. Die Pausen verbrachte ich alleine. Ella fragte mich nicht, wo ich gewesen war oder ob ich mit ihr mitgehen wollte. Sie schien sehr feinfühlig zu sein, was meine Stimmungslage betraf und wann sie mich besser in Ruhe ließ.
Zuhause setzte ich mich an den Computer. Aber mein Email-Fach war leer, schon wieder. Mein Handy hatte auch keine Nachricht empfangen und Post bekam ich erst recht nicht. Ich hatte so vielen Leuten geschrieben – und eine Antwort hätte mich sehr gefreut.
Es hatte doch Leute gegeben, die mich immer noch mochten oder die ich woanders als in der Schule kennengelernt hatte. Niemand antwortete mir. War irgendetwas passiert oder ignorierten sie mich einfach? Was war los?
Ich würde sie auch gern wieder sehen, manche hatte ich schon seit mehr als einem halbem Jahr nicht mehr getroffen. So dringend brauchte ich mal wieder Kontakt zu meinen alten Freunden, ich musste unbedingt mal wieder mit jemandem reden, der mich verstand. Aber taten sie das?
Ich vermisste sie so sehr, aber dachten sie überhaupt mal an mich?
Zurzeit bestand überhaupt kein Kontakt. Sie hatten vielleicht viel zu tun, aber war ich wirklich so unwichtig?
Am nächsten Morgen fuhr mich mein Bruder in die Schule, weil er erst später zur Arbeit musste. Ich wollte nicht, denn das hieß, dass ich vor dem Unterricht mehr Zeit in der Schule verbringen musste.
Ich ging zur Eingangstür hinein und sah sofort, dass Ella mit ein paar anderen am gegenüberliegenden Ende der Aula auf den Stufen der Treppe saß. Unschlüssig und leicht frustiert blieb ich stehen, doch da hatte sie mich schon entdeckt und winkte mich zu sich. Mit schlurfenden Schritten kam ich ihrer Aufforderung nach.
Neben Ella saß Ein Mädchen mit langem braunen Haar, das sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und unnatürlich blauen Augen, über denen sich schräg nach innen geneigte Augenbrauen zusammenzogen.
„Das ist Ley“ stellte sie mich vor „und das ist Mona“ sagte sie zu mir gewandt.
Mona starrte mich an, ich starrte zurück. Ich mochte sie nicht, nein, sie war mir vollkommen unsympathisch. Sie machte sich auch keine Mühe ihre deutliche Abneigung mir gegenüber zu verbergen. Aber nach einiger Zeit schienen wir uns einig geworden zu sein, wir würden distanziert bleiben und uns mit angemessener Höflichkeit begegnen, aber wir würden nie Freunde werden.
Ella fuhr fort, als hätte sie nichts bemerkt: „Und das ist Nico.“
Sie deutete auf den Jungen, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Er sah durchschnittlich aus, kurze braune Haare, braune Augen, mittelgroß, unauffällig. Ob er gut aussah? Ich konnte es nicht beurteilen.
Doch in seinem Blick sah ich es sofort. Nachdem ich in etwas länger beobachtet hatte, fiel mir noch mehr auf. Ich war die ganze Zeit still gewesen und hatte nur das Gespräch verfolgt.
Wie er über alle Witze lachte, die Ella machte, auch über die schlechtesten; überdreht und leicht nervös. Wie er all ihren Bewegungen mit den Augen folgte.
Nico war unglücklich in Ellas Bann gezogen worden und ich verstand ihn nur zu gut. Er war mein Leidensgenosse.
Einige Tage später, der Sommer zeigte sich endlich von seiner besten Seite, war Ella nicht in der Schule. Ich hatte nachmittags Unterricht und verbrachte die Mittagspause mit Nico. Nur wir zwei. Denn, wie ich gemerkt hatte, verstand sich Nico auch nicht mit Mona, aber sie war Ellas beste Freundin und deshalb arrangierte sich auch Nico mit ihr.
Weil die Sonne so schön schien gingen wir spazieren.
Plötzlich gab Nico einen kurzen Schmerzensschrei von sich. Ein paar kleine Jungs hatten ihn mit einem Stein am Kopf getroffen. Ich hob den Stein auf und sah, dass ein Papier um ihn gewickelt war. Den Stein warf ich wieder weg und faltete den Zettel auseinander, dann las ich was darauf stand: GAY!
Mein Herz stoppte. Gab es etwa schon wieder solche Gerüchte um mich?
Ich hatte anscheindend sehr erschrocken ausgesehen, denn Nico versuchte gleich mich zu beruhigen.
„Keine Sorge, der Zettel meint mich. Die Jungs haben wohl gerade wieder Langeweile.“
Ich atmete erleichtert auf. Auch wenn es nicht gut für Nico war, konnte ich nicht anders als mich zu freuen.
„Welchen Grund haben die? Ich meine, wie kommen die darauf?“, fragte ich.
„Ich habe jahrelang in Musicals mitgespielt. Und wenn man Musicals spielt als Junge, muss man schwul sein, oder?“
Er seufzte.
„Du bist nicht schwul, ganz bestimmt nicht.“
„Woher willst du das wissen?“ fragte er fast etwas spöttisch.
„Weil du ganz offensichtlich in Ella verliebt bist.“
Eine Pause entstand. Nico blickte mit traurigem Blick auf den Boden. Er schien keine Hoffnung zu haben.
„Das sieht man, wenn man aufpasst“ fuhr ich fort. „Und wegen der Gerüchte: Ich versteh dich da vielleicht besser als du denkst.“
Er schwieg weiter und sah mich nur an.
„Wegen Gerüchten hab ich die Schule gewechselt.“
„Was haben sie über dich erzählt?“ fragte er.
Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, es jemandem zu erzählen. Mein Bruder hatte Recht, irgendwann musste ich anfangen darüber zu reden. Und warum sollte ich Nico nicht vertrauen? Er fühlte doch auch so wie ich.
„Na ja … , ein Mädchen an meiner alten Schule, dem ich vertraut habe, hat mich als lesbisch geoutet, obwohl das gar nicht stimmt.“
„Wie kam sie darauf?“
Das nächste Geständnis kam mir nur schwer über die Lippen, doch wenn ich nicht jetzt darüber sprach, wann dann.
„Ich hab ihr gestanden, dass ich in sie verliebt bin“
Eine Ewigkeit verging, bis Nico wieder etwas sagte.
„Bist du in Ella verliebt?“ fragte er mich mit sehr ernster Miene.
Ganz vorsichtig nickte ich.
„Du bist vielleicht nicht lesbisch, aber verdammt nah dran. Immerhin hast du dich schon mindestens zweimal in ein anderes Mädchen verliebt.“
Das hatte ich eigentlich nicht hören wollen.
Ella war am nächsten Tag wieder in die Schule gekommen. Still und Leise. Sie saß mit Mona und Nico auf den Treppenstufen. Blass sah sie aus, aber nicht besonders krank, sondern eher unglücklich. Die anderen waren in ihre Bücher vertieft, weil sie in der nächsten Stunde Schulaufgabe schrieben. Sie waren so konzentriert, dass sie Ella gar nicht beachteten, aber man konnte es ihnen auch nicht übelnehmen.
„Guten Morgen!“ begrüßte ich sie möglichst fröhlich. Als sie dann aber langsam und stumm aufblickte, hatte ich das Gefühl, dass ihre Augen heute dunkler waren. Ein Sturm war übers Meer gezogen.
Ella bemühte sich nicht einmal höflich zu sein, also musste es ihr wirklich schlecht gehen.
Trotz meines klopfenden Herzens setzte ich mich ganz nah neben sie und sah sie an.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein, ich brauche nur frische Luft“ sagte sie, stand auf und eilte mit großen Schritten Richtung Tür zum Pausenhof.
Ich folgte ihr. Als ich sie eingeholt hatte, saß sie mit dem Rücken zu mir auf einer Bank und hatte die Knie an ihren Körper gezogen. Ich setzte mich neben sie.
„Hey, was ist los?“
Sie schwieg eine zeitlang und schien nach Worten zu suchen, dann stellte sie ihre Füße wieder auf den Boden und drehte sich zu mir. Ihr Blick war komisch, ich konnte ihn nicht deuten.
„Du bist so süß“ fing sie an und ich erstarrte. „Du willst immer, dass es mir gutgeht. Und du bist viel selbstbewusster und so viel hübscher als ich.“
„Der Meinung bist aber auch nur du, mach dich selbst doch nicht so fertig, du bist ehrlich eine wundervolle Person“ entgegnete ich.
Sie setzte zu einer Antwort an. Ich atmete tief durch; jetzt würde sie endlich zu ihrem wirklichen Hauptproblem kommen.
„Aber wer würde mich schon küssen wollen?“
Ihre Haltung war zusammengesunken. Sie ließ ihre Schultern hängen und schien insgesamt viel kleiner geworden zu sein.
Ich nahm ihre Hände, die sie auf ihre Oberschenkel gelegt hatte, in meine und sah ihr tief in die Augen.
Unerwarteterweise zitterte meine Stimme nicht einmal, als ich leise die Antwort gab, die sie bestimmt nie erwartet hatte: „Ich.“
Ich küsste sie nicht wirklich. Meine Lippen streiften ihre wolkenweichen Lippen nur wie ein Windhauch. Aber dieser Hauch genügte um ein gewaltiges Feuerwerk in meinem Körper zu entzünden.
Ich war mir jetzt sicher, ich war mehr als nur verdammt nah dran. Und jetzt wurde mir auch klar, dass ich schreckliche Angst davor hatte, dass mein Traum in Erfüllung ging.
Ella rang nach Luft und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Die Frage jetzt war nur noch, wer als Erstes aufstand und davonrannte. Es war Ella. Nach einer unendlichen Sekunde der Erstarrung floh sie zurück ins Schulhaus. Ich blieb sitzen, denn ich hatte nicht die Kraft ihr nachzulaufen.
Mit wackeligen, zittrigen Beine brauchte ich einige Zeit, um aufzustehen und mich aufzurichten. Kaum stand ich, beugte ich mich schon wieder vor und erbrach mich neben die Bank ins Gras, das erste Mal von vielen in der folgenden Woche. Ich ging nicht mehr in die Schule, ich stand nicht mehr aus dem Bett auf, ich aß nichts, ich sprach mit niemandem und fühlte mich einfach elend. Es schien als wollte sich mein Körper gegen das wehren, was ich fühlte, es loswerden, aber leider funktionierte es nicht.
Nachdem ich eine ganze Woche keine feste Nahrung zu mir genommen hatte, fuhren meine Eltern mich ins Krankenhaus. Ungewollt hatte ich ihnen schon wieder so große Sorgen bereitet.
Zum Glück brauchten die Ärzte eine Zeit lang, um mich auf alle Krankheiten zu untersuchen und würden deshalb erst später damit anfangen mir Psychologen auf den Hals zu hetzen. Die konnte ich nämlich jetzt am wenigsten gebrauchen. Da musste ich alleine durch.
Irgendwann, als ich gerade dabei war, mein Leben in den schwärzesten Farbtönen zu malen, schaute ich auf, und da stand sie. In der Tür. Schweigend kam sie näher und setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Ich fühlte mich unter ihrem undeutbarem Blick noch schwächer als vorher, doch jetzt war die Möglichkeit gegeben, mich zu erklären. Das hatte sie verdient, sie traf keine Schuld daran, dass unsere Freundschaft so jung starb. Ich war ihr eine Erklärung schuldig, und zwar eine ehrliche. Mein Gedanken überstürzten sich, als ich nach richtigen Worten suchte.
„Das was ich jetzt sagen werde, fällt mir sehr schwer, also bitte lass mich ausreden.
Das was passiert ist … . In diesem Augenblick war ich nicht in einem Zustand kurzzeitiger geistiger Verwirrung, auch wenn das die Erklärung so viel leichter machen würde. Es war kein Versehen und auch keine Kurzschlussreaktion, na ja, das vielleicht schon. Aber es war nichts Unbedeutendes und auch nicht Etwas, über das ich irgendwann lachen kann. Ich wollte das nicht und hab es trotzdem getan. Du brauchst mir nicht zu verzeihen und dich trifft auch keine Schuld. In Zukunft lass ich dich in Ruhe und ich such mir eine anderen Freundeskreis oder bleibe alleine, aber du musst keine Angst haben, mich zu treffen.
Die Wahrheit ist nämlich, ich bin lesbisch und ich habe mich in dich verliebt. Es tut mir leid.
Ich wünsche dir viel Glück im Leben, um mich brauchst du dich nicht mehr zu kümmern.
Aber bitte, bitte verrate mich nicht.“
Sie schien etwas geschockt, aber keineswegs böse, was ich eigentlich erwartet hatte. Eher noch etwas besorgt.
„Was redest du denn für einen Quatsch? Dir braucht doch nichts leid zu tun. Und ich will trotzdem mit dir befreundet sein. Deswegen brauchst du dich doch nicht so schlecht zu fühlen. Da mache ich mir schon eher Vorwürfe machen, weil ich deine Hoffnungen zerstören muss. Du bist zwar echt nett und auch ziemlich süß, aber ich bin in jemanden anderen verliebt.“
„Ich hatte nie Hoffnung, ich habe höchstens ein bisschen geträumt und dagegen hab ich immer angekämpft.“
„Du darfst deine Gefühle nicht bekämpfen, da wirst du nur krank davon, so wie jetzt. Und nur, dass das klar ist, du kannst mir vertrauen. Weißt du, ich versteh dich auch ein bisschen, denn ich bin in Nico verliebt und will aber unsere Freundschaft nicht zerstören. Das wird wohl nie was werden.“
In meinem Kopf fingen die Räder an, sich zu drehen. Diese Nachricht war in gewisser Weise großartig, denn, wenn auch nicht für mich, bestand für zwei andere Personen die Chance auf ein Happyend und ich hatte es in der Hand. Ich wusste jetzt etwas, das die anderen beiden nicht wussten, nämlich das ihre Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten. Fast musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Diesmal musste es nicht böse ausgehen. In Ella hatte ich nun auch eine wahre Freundin, nicht so eine falsche Schlange, wie damals. Jetzt musste ich es nur noch geschickt anstellen und den anderen ein bisschen Starthilfe geben.
„Danke, mir geht’s besser, aber ich würde trotzdem gerne alleine sein. Wir sehen uns irgendwann später. Und mach dir keine Sorgen, ich werde bestimmt wieder gesund.“
Ella nickte, nahm kurz meine Hand, drehte sich dann um und ging.
Nachdem sich innerhalb der nächsten zwei Tage mein Zustand plötzlich und unerklärlicherweise verbessert hatte, entließen mich die Ärzte mit einem ungläubigen Kopfschütteln nach Hause.
Ich war in den Abgrund gefallen und von einem Netz aufgefangen worden, von dem ich nicht vermutet hatte, dass es überhaupt da war.
Ich brauchte einen Plan, wie ich den beiden am besten die Augen öffnen konnte, aber mir fiel nichts ein. Nachts lag ich wach und grübelte und auch tagsüber war ich geistig meistens abwesend. Es war mir so wichtig, dass wenigstens irgendjemand am Ende glücklich war. Garantiert würde das nicht ich sein, aber die beiden konnten es.
Inzwischen war es Hochsommer und schon sehr nah am Ende des Schuljahres. Wir saßen zu Dritt, Mona fehlte, was ich eigentlich ganz gut fand, in einer Freistunde draußen auf einer Wiese. Außer uns war niemand da. Es war furchtbar heiß. Die Hitze lastete schwer auf uns allen und machte uns müde und langsam. Jede Tätigkeit wäre mühsam. Nur das Summen der Insekten störte die Stille.
Wir verbrachten zwar die Zeit miteinander, doch es herrschte nur Schweigen. Nicht die Art Schweigen, die durch zufriedenes Dösen in der Sonne entstand, sondern diese peinliche Stille, in der sich niemand zu reden traut. Mein Geheimnis schien ihnen Unbehagen zu bereiten, sie schlossen mich nicht irgendwie aus, aber es war ihnen unangenehm, dass sie es wussten. Sie wussten ja auch nicht, dass der jeweils andere es wusste. Oder es war, weil ich ihr Geheimnis kannte.
Mein Kopf war so leer, das Denken fiel mir schwer, also beobachtete ich nur meine Umwelt. Nico machte eine Bewegung und streifte Ella aus Versehen mit dem Ellenbogen. Sie blickten sich erschrocken an und Nico entschuldigte sich sofort, aber Ella wehrte ab. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich in letzter Zeit wie rohe Eier behandelten.
Plötzlich wurde ich wütend. Ich saß hier und grübelte, wie ich ihnen helfen konnte, glücklich zu werden, obwohl sie das eigentlich nur alleine konnten, und sie hockten hier blind vor dem Offensichtlichen.
Ich stand ruckartig auf: „Hört ihr jetzt endlich damit auf!“
Sie starrten mich völlig perplex an.
„Ich versuche nun schon einiger Zeit eine Weg zu finden, dass ihr glücklich werdet. Aber warum soll ich das machen? Nur weil ihr selbst es nicht schafft endlich mal die Augen aufzumachen und zu handeln? Ihr seid so mit euch selbst beschäftigt, dass ihr gar nicht seht, was um euch herum passiert. Ich war auch immer sehr gut darin, mich in meinem Unglück zu versenken, aber bei euch ist das jetzt wirklich lächerlich. Seht ihr denn nicht, dass eure Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen? Jetzt reißt euch verdammt noch mal zusammen und werdet glücklich miteinander!“
Ich stand auf und ging ins Schulhaus zurück. Ich wusste gar nicht, was meinen Wutanfall verursacht hatte, aber vielleicht half das besser als jeder Plan.
Noch während ich zur Tür ging platschten mir die ersten warmen Regentropfen ins Gesicht. Schnell rettete ich mich ins Haus und spionierte durch ein Fenster, was draußen vor sich ging.
Die beiden waren aufgestanden und blickten sich erstaunt, aber auch leicht erfreut an, zumindest hoffte ich das. Durchnässt vom Regen gingen sie die paar Schritte aufeinander zu, bis sie ganz nah beieinander waren. Dann strich Nico Ella das nasse Haar aus dem Gesicht und sie wischte mit ihrem Finger die Regentropfen von seinen Lippen. Als sie sich schließlich küssten, versetzte es mir einen gewaligen Stich ins Herz. Ja, es tat weh sie so zu sehen und für einen Augenblick wünschte ich mich an Nicos Stelle, aber dann sah ich wie ihre Augen glänzten und ich sah die Freude in ihren Gesichtern. Erst jetzt schienen sie den starken Regen zu bemerken und Hand in Hand flüchteten sie sich ins Gebäude, bis sie patschnaß und lachend vor mir standen.
„Komm lass dich umarmen“ sagte Nico und beide breiteten ihre tropfenden Arme aus.
„Nein danke, lieber nicht“ gab ich zurück und plötzlich war mir nach Lachen zumute. Ella und Nico stimmten mit ein und so schnell, wie der Regen gekommen war, ging er auch wieder und machte Platz für die Sonne. Als ich wieder aus dem Fenster sah war wie von einer unsichtbaren Hand ein Regenbogen an den Himmel gemalt. Das war mein Zeichen.
Auch ich würde meinen Weg gehen und irgendwann glücklich sein. Das war alles, was ich wusste und es war alles, was ich zu wissen brauchte.
Epilog
Ich hatte sie einige Jahre nicht getroffen, bis ich sie einmal wiedersah. In einem Park, unterwegs auf einem Sandweg, der von Ahornbäumen gesäumt war. Vom Sand war jedoch kaum noch etwas zu sehen, denn der Boden war von orangeroten und gelben Blättern bedeckt. Der Tag war trocken und windig, doch die Sonne verschönerte diesen einen der letzten Tage des Oktobers.
Ich erkannte sie sofort, auch aus der Weite, sie war nicht allein, sondern ging bei einem Mann untergehakt. Plötzlich wirbelte ein Windstoß das Laub auf und sie ließ ihn los, um lachend mit den Blättern um die Wette zu tanzen.
Gerade als sie wieder an die Seite des Mannes zurückgekehrt war und den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte, erblickte sie mich. Einen kurzen Augenblick dauerte es schon, dann erkannte sie mich auch und lief freudestrahlend auf mich zu, um mich zu umarmen. Als wir uns aus der Umarmung gelöst hatten, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete mich. Ich besah mir Ella ebenfalls sehr genau, sie sah fast noch genauso aus wie damals, nur die Lachfalten waren mehr geworden, doch das Blitzen in ihren Augen war noch genau das Gleiche und ihr Locken strahlten immer noch im Sonnenstrahl.
„Das hätte ich jetzt gar nicht gedacht! Ley, dich zu sehen, ich hätte dich fast nicht erkannt, du hast dich arg verändert, aber gut siehst du aus.“
„Du aber auch.“
Wir lachten beide.
Inzwischen hatte uns auch der Mann erreicht. „Das ist Marco“ stellte sie ihn mir vor, „mein Verlobter“ fügte sie hinzu und lachte ihr tolles Lachen, das mich früher immer so aus der Bahn geworfen hatte.
Ich reichte ihm die Hand. „Nenn mich Ley. Wir zwei sind, nun ja … alte Schulfreunde.“
Sein Händedruck war warm und fest und er lächelte mich ernsthaft erfreut an.
„Glückwünsche zur Verlobung.“
„Wenn du willst, lad ich dich zur Hochzeit ein“ entgegnete Ella sofort und bat erst nachher durch einen Blick um die Einverständnis von Marco.
„Na klar, ich freu mich“ sagte er, nun zu mir gewandt.
Mit einem verlgenen Lächeln gab ich zu: „Ella, jetzt tut es mir aber wirklich leid, dass du bei meiner Hochzeit nicht dabei warst, es wäre sicher schön gewesen.“
„Was, du bist verheiratet? Seit wann?“
„Seit eineinhalb Jahren jetzt schon fast“ ich kramte aus meiner Jackentasche ein Foto hervor, das an den Ecken schon ein bisschen abgegriffen war, „das ist meine Frau Miriam“.
Das Foto zeigte uns bei unserer Hochzeit. Miriam sah wunderschön aus mit Blumen in ihren braunen Haaren. Wir hatten beide das gleiche, cremeweiße, schlichte Kleid aus glattem Stoff an, nur ein farbiger Streifen um die Taille war ein kleiner Unterschied, bei mir dunkelblau, bei ihr violett. In den Händen hatten wir beide jeweils einen Strauß weiße Lilien. Meiner Meinung nach hatten wir zwar ausgesehen wie Brautjungfern, trotzdem war es toll gewesen, der schönste Tag in meinem Leben. Geheiratet hatten wir an einem wunderschönen Tag im Mai mit Sonnenschein und ich war fast geplatzt vor lauter Glück.
Ella betrachtete intensiv das Bild, schwieg dazu.
„Und das ist auch eine Person, die in unserem Leben bald eine riesige Rolle spielen wird“ sagte ich und reichte ihr ein zweites, neueres Bild. Auf dem Ultraschallbild konnte man kaum etwas sehen, ich wunderte mich immer über das, was Ärzte dort alles erkennen konnten, doch Ella wusste natürlich sofort, was es bedeutete.
Sie starrte mich völlig überrascht an. „Wer …?“, brachte sie heraus, bevor sie tief durchatmete und sich sammelte, um einen vollständigen Satz zu bilden.
„Wer von euch beiden ist es ?“
„Sie. Und ich werde sie in jedem Augenblick unterstützen“
Ich lächelte.
„Wir werden Mütter“ fügte ich nochmals ganz stolz hinzu.
„Ich fass es nicht, das ist so toll für dich. Wow! Komm her, lass dich nochmal umarmen.“
Marco musste leider bald wieder los und so lächelten mich beide an, Ella hakte sich erneut unter. Mit ihrer freien Hand gab sie mir ihre Visitenkarte.
„Wir müssen jetzt gehen, aber ruf mich ganz bald mal an, ok? Und alles Gute noch.“
Sie wandten sich zum gehen, winkten nochmal und ich schaute ihnen noch kurz nach, drehte mich dann aber auch um.
Leise ein Lied summend und glücklich machte ich mich auf den Weg nach Hause, wo meine Zukunft auf mich wartete, der ich mit einem Flattern im Bauch entgegensah.
Ich war bereit.
Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Lillian für die schöne Geschichte.
Wenn auch Ihr Eure Kurzgeschichten auf gorizi.de veröffentlichen möchtet, schreibt eine E-Mail an Sarah.