Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 17

Fortsetzungsgeschichte

Noemi Berens lebt ihr Leben, wie sie es möchte. In der
Schule schläft sie, nachts probt sie mir ihrer Band und am Wochenende treibt sie sich auf Festivals herum. Ihre Mutter ist verzweifelt, aber Noemi mag ihr Leben. Sie ist beliebt, hat immer Spaß und will später nicht studieren.

Dann kommt Agnes Wendt neu in die Klasse, die mit ihrem
streng katholischen Glauben nicht auf Gegenliebe trifft.

Kapitel 17: Auf dem Weg zum Arzt

Zu Fuß?

„Nein, Mama. Nein, habe ich nicht, Mama. Ja. Okay. Ich warte einfach hier“, Agnes legte auf. Anscheinend war es ein neuer Volkssport, sie als eine absolut miese Kinderhüterin darzustellen, wenn man dem alten Mann, ihrer Mutter und den Kommentaren des werten Herrn Ex-Pfarrers aus dem Hintergrund Glauben schenken wollte.

Martin weinte wieder, nachdem Agnes ihn durch das Gespräch mit ihrer Mutter daran erinnert hatte, wie weh er sich getan hatte.

Ihre Mutter würde bestimmt eine halbe Stunde brauchen, ehe sie hier sein könnte, und bis dahin war Martin wahrscheinlich vor Schmerzen gestorben. Oder eingeschlafen, denn schwimmen, und das seit beinahe einer Stunde anhaltende Wimmern mussten für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Sie wusste selbst, dass es ihrem Bruder gegenüber nicht fair war, aber in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er einfach still wäre.

Allein würde Agnes bis zum Arzt zehn Minuten laufen. Und selbst mit Martin auf dem Arm wäre sie schneller als ihre Mutter. Sie tippte schnell eine SMS, lud sich ihren Rucksack auf den Rücken, zog Martin seinen an und nahm ihn hoch.

„Komm, wir gehen zu Fuß“, seufzte sie. Er war ganz schön schwer. Und gab sich nicht die geringste Mühe, sich an ihr festzuhalten. Im Gegenteil, er wollte am liebsten einfach sitzen bleiben, und machte sich dahingehend auch lautstark bemerkbar. Nach einer Busstation gab Agnes auf. Mit dem Rucksack konnte sie ihn nicht vernünftig halten. „Wir warten jetzt auf den nächsten Bus“, ordnete sie an. Martin quittierte das mit einem weiteren, lauten Weinen.

Schlechtes Gewissen

Noemi hörte Martin schon lange, bevor sie die beiden an der Bushaltestelle sitzen sah. Nachdem ihr klar war, dass sie für Schuhe weder Geld noch die nötige Ruhe besaß, war sie zur Schule zurückgegangen, aber von Kai war dort keine Spur mehr zu finden. Und da sie ihren Schlüssel zu seiner Wohnung (von dem er nichts wusste) heute morgen liegen gelassen hatte, tigerte sie nun durch die Stadt, auf der Suche nach jemandem, der ihr Unterschlupf gewähren könnte.
„Hallo, Agnes“, grüßte sie beiläufig und ging so unbeteiligt wie möglich an der Bushaltestelle vorbei. Ja, sie war nicht nett gewesen. Und außerdem ging ihr diese Begegnung in der Umkleide nicht aus dem Kopf. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie Agnes echt so verletzt hatte.
Agnes antwortete nicht. Was bildete sich diese blöde Ziege eigentlich ein? Noemi hatte doch ganz klar „Hallo“ gesagt, konnte man da nicht erwarten, eine Antwort zu bekommen?
Gerade wollte sie einen flapsigen Kommentar geben, als Martin von Neuem laut zu heulen begann. „Du hast ja eine ganz schöne Ausdauer“, Noemi ging in die Knie. Martin sah sie mit großen, verheulten Augen an. Für einen Augenblick schien ihn das schwarz geschminkte Mädchen tatsächlich zu beruhigen. Aber dann… erinnerte er sich wieder an seine schrecklichen Schmerzen.
„Tut mir leid“, sagte Agnes. Noemi musterte sie. „Du siehst ganz schön fertig aus“, urteilte sie. „Kann dich niemand abholen?“
Agnes verneinte. „Hm.“
Noemi setzte sich auf den verbliebenen Sitz. Und schwieg.
Und Agnes schwieg auch.
Sogar Martin hatte aufgehört zu weinen.
‚Los, sag was‘, rief eine Stimme in Noemis Kopf. Das war ihr schlechtes Gewissen, das sie in die Knie zwang, bis sie ihren kleinen Fauxpas mit dem Foto wieder ausgebügelt hatte.
‚Mach schon‘, rief sie immer wieder, die dumme Stimme. ‚So schlimm kann’s nicht sein! Und wahrscheinlich will sie deine Hilfe ja gar nicht!‘

Noemi seufzte. „Kann ich… dir irgendwie helfen?“, spulte sie eine Höflichkeitsfloskel ab und warf ihrem schlechten Gewissen einen vorwurfsvollen Blick zu.
Agnes sah sie verblüfft an. Sie hatte ja mit vielem gerechnet. Mit einer schadenfrohen Bemerkung, mit einer grinsenden, selbstzufriedenen Noemi, die in den nächsten Bus stieg. Aber nicht mit sowas.
„Ja, schon“, und sie sah Noemi dankbar an, „du könntest meinen Rucksack nehmen. Der Arzt ist nicht weit weg, und wenn nachher kann Martin sicher abgeholt werden“, erklärte sie.
Noemi lächelte sie an. ‚Bist du jetzt zufrieden?‘, fluchte sie in Gedanken. Und – ja. Irgendwie war sie genau das. Zufrieden.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 16

Kapitel 16: Andere Sorgen

Tanja

Kai wusste nicht, was er machen sollte. Seit zwei Stunden lief er durch die Schuhläden der Stadt, aber in keinem hatte man Noemi gesehen. Und sie fiel immer auf, meistens, weil sie aufgrund ihres Äußeren für einen Dieb gehalten wurde. Er hatte es nicht geplant, und eigentlich wollte er sie nicht rausschmeißen. Aber gestern hatte Tanja herausgefunden, dass er mit einer anderen Frau zusammenwohnte. Eigentlich war sie nicht besonders eifersüchtig, und auch ziemlich tolerant, aber bei Noemi hörte der Spaß auf. „Sie läuft die ganze Zeit in Netzstrümpfen rum, und ihr haltet Händchen“, hatte sie geschluchzt, „ich will doch die Einzige für dich sein“, ging es weiter, und schließlich endete das Drama in einem großen „Wenn sie, dann ich nicht“ – Finale.

Es lief gerade so gut, und neben Noemi war Tanja die erste Frau, mit der er sich wirklich etwas vorstellen konnte. Sie nicht nur über Nacht blieb, sondern auch Frühstück bekam. Er wollte das nicht aufgeben, nur weil Noemi nicht mit ihrer Mutter klar kam.

„Mailbox“, seufzte er, als er zum dritten Mal Noemis Nummer gewählt hatte. Er gab auf. Irgendwann war auch bei ihm eine Grenze erreicht, und zwar genau jetzt.

„Tanja, Liebes“, säuselte er in sein Handy. „Warte an der Schule, ich komme dich abholen!“ Er sah an sich herunter. Sah akzeptabel aus. Die Linie 249 fuhr gerade über die Kreuzung, als er an der Bushaltestelle ankam. Perfekt. Und wie schnell er selbst die Sorgen um Noemi vergessen konnte, zeigte sich, als er fünfzehn Minuten später vor dem Schultor der St.-Joseph-Schule stand, und seine wunderschöne Freundin in die Arme nahm.

Auf zum Arzt

Agnes wartete am Beckenrand darauf, dass ihr quietschfideler Bruder endlich aus dem Wasser kommen würde. Er hatte wirklich nicht ins Becken gemacht diesmal, weshalb sie sich überlegt hatte, ihn nachher mit einem Eis zu belohnen. Natürlich ohne, dass ihre Mama davon etwas mitbekam, denn Eis gab es nur sonntags bei Familie Wendt.

„Martin, nun komm endlich!“, rief sie. „Du bist ja schon ganz schrumpelig!“ Sie lächelte ihm zu, obwohl ihr eigentlich eher zum Weinen war. Sie war nun offiziell für etwas geoutet, dass sie gar nicht war. Und nur, weil sie noch nie einen Freund gehabt hatte, hieß das ja nicht, dass sie gleich auf Frauen… „Agi! Agi, ich glaub mein Fuß ist kaputt!“, holte ihr kleiner Bruder sie in die Realität zurück. An seinem Knöchel zeichnete sich ein dunkler, blauer Fleck ab. „Und es tut auch ganz weh!“, wimmerte er. Über sein nasses Gesicht liefen ihm Tränen. „Ich bin nur hingefallen, da vorne“, heulte er, „und dann hat es ganz doll geknackt!“

Agnes nahm ihn auf den Arm. „Wir gehen am besten zum Arzt“, erklärte sie. Es sah wirklich nach einem Bruch aus. Vielleicht war es auch nur eine Prellung oder eine Zerrung, aber sie ging vom Schlimmsten aus. „Martin, es ist alles ok, der Arzt macht ihn wieder heile.“ Sie strich ihm über den Kopf, als sie ihm in seine Sachen half. Zum Schluss hüllte sie ihn in ihren Mantel und trug ihn nach draußen. Was sollte sie machen? Mit dem Bus fahren konnte sie vergessen, denn auch wenn Martin erst vier war, war er auf Dauer doch schwer, vor allem mit seinen Schwimmsachen, und, weil er noch immer weinte und sich unter Schmerzen wand. „Martin, jetzt halt mal still“, befahl sie ihm, und erreichte das genaue Gegenteil. Resigniert setzte sie sich in die Bushaltestelle. „Ich rufe Mama an“, erklärte sie, und hoffte, ihn dadurch beruhigen zu können. Aber der kleine Junge weinte nur immer mehr, und schrie. „Mein Fuß ist kaputt, Agi, aua, mein Fuß tut so weh“, jammerte er. Die Leute auf der anderen Straßenseite drehten sich bereits nach ihnen um. Ein älterer Herr, der wohl auch auf den Bus wartete, musterte Agnes kritisch. „Da hätteste wohl nich‘ so früh Mutter werden sollen, wa?!“ lachte er, und sein Husten enttarnte ihn als jahrelangen Raucher. „Selbst schuld, wa?! Und jetz‘ haste das Blag am Hals, wa, und keene Ahnung wasde machen musst!“

Agnes blickte betreten zu Boden. „Er hat sich den Fuß verletzt, und ich bin seine Schwester“, sagte sie, aber ihre Stimme blieb weg, und es war nur ein heiseres Raunen zu hören. Den Mann schien ihre Rechtfertigung ohnehin nicht zu interessieren. Er stieg in die Linie 249 ein, die soeben angekommen war, und Agnes wählte die Nummer ihrer Mutter.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 15

Fortsetzungsgeschichte

Noemi Berens lebt ihr Leben, wie sie es möchte. In der
Schule schläft sie, nachts probt sie mir ihrer Band und am Wochenende treibt sie sich auf Festivals herum. Ihre Mutter ist verzweifelt, aber Noemi mag ihr Leben. Sie ist beliebt, hat immer Spaß und will später nicht studieren.

Dann kommt Agnes Wendt neu in die Klasse, die mit ihrem
streng katholischen Glauben nicht auf Gegenliebe trifft…

Kapitel 15: Es ist raus

Neue Liebe

Nachdem Noemi keinerlei Anstalten machte, ihn loszulassen, drückte er sie sanft, aber bestimmt, von sich weg. „Süße, das geht nicht. Es haben sich… gewisse Dinge ergeben, weißt du. Deshalb wär es besser, wenn du erst einmal zurück zu deiner Mutter gehen würdest…“ Noemi verstand nicht, worum es ging. Sie musterte ihren besten Freund, sah seinen flehenden Blick, seine ineinander vernoteten Hände, die zerrissenen Chucks. „Wieso denn?“, weinte sie, und senkte den Blick. Sie wirkte noch kleiner als sonst. „Ich bin auch ganz leise?“ versuchte sie es. Kai schwieg. Was sollte er auch sagen? Sie würde sich ohnehin nicht umstimmen lassen. „Also ist das abgemacht, ja?“ Schon hüpfte sie wieder von ihm weg. „Ich geh Schuhe kaufen!“, kündigte sie an.

„Warte, Noemi“, bat Kai. Es war wirklich nicht leicht. Und er hatte Angst, sie zu verlieren. „Noemi, ich hab mich verliebt.“ Noemi stoppte, drehte sich aber nicht zu ihm um. „Achso. Okay“, sagte sie, und nur an ihrem bebenden Oberkörper sah er, dass sie weint. „Ich muss jetzt wirklich los. Schuhe kaufen, weißt du. Die warten nicht auf mich“, und mit diesen Worten lief sie davon. Kai hätte sie leicht einholen können; aber er hatte das Gefühl, dass er nicht der richtige war, um sie zu trösten.

Frauenlos

Agnes war voller Tatendrang. Am liebsten hätte sie ihrem Philosophielehrer sofort den Aufsatz gezeigt. Aber zunächst musste sie nach Hause, um ihren kleinen Bruder zu seiner Schwimmgruppe zu begleiten. Sie summte fröhlich vor sich hin, bis sich, kaum, dass sie die Tür aufgemacht hatte, all ihre Hoffnungen zerschlugen: „Guten Tag, Fräulein Agnes“, grüßte Herr Dr. Breitner, nicht ohne ein fieses Grinsen aufzusetzen. „Ich habe Ihre Mutter gerade über ihre… ’schulischen Aktivitäten‘ aufgeklärt“, verkündete er. Ihre Mutter saß auf dem Stuhl, der Pfarrer hielt ihre Hand und fächerte ihr Luft zu. „Ich danke Ihnen, dass sie in dieser… Angelegenheit zu uns gekommen sind. Wir kriegen das wieder hin“, versicherte er, und bedeutete unmissverständlich, dass Herr Dr. Breitner nun überflüssig war. Der verstand, empfahl sich und verließ den Raum.

Agnes setzte sich wortlos an den Tisch. „Wir beide denken, es ist das beste für dich, wenn du auf eine andere Schule gehst“, sagte der Pfarrer. Wir beide denken. Der hatte sie nicht alle. Er war nicht ihr Vater.

„Außerdem haben wir dich in Zukunft mit Maximilian zur Bibelstunde eingeteilt. Du solltest dich von Mädchen in Zukunft besser fernhalten“, erklärte er. Wieder ein Befehl. Agnes hasste ihn. Nur, weil er jetzt trocken war, meinte er wohl, er sei der Oberchamp! „Ja, natürlich“, seufzte sie. In diesem Moment stürzte Martin auf sie zu, der bereits seine froschgrüne Schwimmtasche gepackt hatte. „Heute mache ich auch nicht Pipi im Becken!“, rief er, und zog an Agnes‘ Leinenhose, bis sie, ohne einen weiteren Ton von sich zu geben, mit ihm in ihr Zimmer ging und ihre Sachen packte.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 14

Zurück nach Hause

Umkleide

Agnes sah sie nur kurz an. Irgendwie war sie nicht
verwundert gewesen, als Noemi die ganze Stunde nicht erschienen war. Und fast schon hatte sie damit gerechnet, dass sie verschwunden sein würde.

Silvia, hochrot im Gesicht und Schweiß überströmt (aber
nicht vom Sport, sondern vom Trepenlaufen, sie hatte die ganze Stunde auf der Bank gesessen), klopfte Agnes auf die Schulter. „Du machst das total gut, mit der Selbstverteidigung, echt,“ lobte sie sie. „Kannst du mir das zeigen?“

Mehrere Mitschüler warfen sich leicht spöttische Blicke zu.
Agnes nickte nur stumm, und blickte hinter Noemi her, die den Raum verließ. „Oh super! Ich komm dann zu dir, ja? So um 5? Ist das recht?“ In ihrer Tasche knisterte Schokoladenpapier. Agnes nickte ein zweites Mal. So schnell ging das mit dem Freundschaften schließen.

Umstimmung

Auf dem Rückweg in die Klasse ging sie im Kopf ihre Aufsätze
durch. Zwei ihrer Essays waren bereits veröffentlicht, die schieden eh aus für den Wettbewerb. Zwei weitere fand sie nicht besonders originell, ein dritter über den Typus des Philosophen zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings hielt sie für gelungen. Sie hatte extra dafür einen Tagesausflug in die Universität Köln gemacht, ganz allein. Darauf war sie wirklich stolz, auf diesen Essay.

Agnes war fest entschlossen, Herrn Dr. Breitner wieder umzustimmen. Dafür musste sie nur hingehen, Noemi hatte inzwischen sicherlich alles richtig gestellt.

Verstimmung

Noemi indessen war hinter die Schule gelaufen. „Kai?“ Sie
sah sich verstohlen um. Insgeheim stellte sie sich immer vor, sie würde
verfolgt werden. Leise schlich sie sich an der Hauswand entlang und machte große Schritte, damit sie nicht auf das Laub trat. Nur kein Geräusch machen, damit ihre Verfolger sie nicht bemerkten.

Kai, der bereits an ihrem Treffpunkt wartete, beobachtete
die Szene belustigt. „Noemi?“ Die kleine Gestalt (die in ihrem schwarzen
Kleidern vor der weißen Hauswand nicht ausreichend getarnt war) schreckt auf und hob ihre Fäuste. Als ihr auffiel, dass sie einer ihrer Fantasien erlegen war, räusperte sie sich und trat Kai in einem geschäftlich-distanzierten Ton gegenüber. „Ja bitte?“ Kai kicherte. „Du bist so süß.“ Er wollte sie ein wenig einwickeln.

„Was wolltest du von mir?“ Noemi ahnte, dass etwas nicht gut
lief. „Was ist denn los?“

„Na ja…“ Kai druckste herum. „Noemi, es gibt da ein
Problem…“

Er sah ihr in die Augen und legte seine Hände auf ihre
Schultern.

„Du kannst nicht mehr bei mir wohnen, echt nicht,“ sagte er.
„Tut mir leid.“

Allein

Noemi traten die Tränen in die Augen. „Aber. Aber. Aber.“ Es
hörte sich nicht so an, als ob nach diesem Wort noch ein Satz folgen würde.

„Das hat nichts damit zu tun, ob ich dich liebe oder nicht,
echt nicht. Ich liebe dich, Süße…“ Noemi hörte schon nicht mehr zu.

„Ich hab doch nur dich. Ich bin doch ganz allein,“
schluchzte sie. „Ich bin doch so allein, Kai,“ und in ihren Augen sammelten sich dicke Krokodilstränen.

„Noemi, jetzt stell dich nicht so an. Du hast zu Hause ein
Zimmer, das doppelt so groß ist wie meins,“ versuchte er sie aufzuheitern.

„Ich schlaf auch auf dem Boden! Oder in der Badewanne! In
der Küche! Wie Aschenputtel vor dem Ofen!“ Kai musste trotz seines schlechten Gewissens lächeln. „Noemi…“ Er umarmte sie und strich ihr mit einer Hand über die vom vielen Färben strohigen Haare. Und nur an der Art, wie sie sich an ihm festklammerte, merkte er, dass sie wirklich allein war ohne ihn.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 13

Kapitel 13: Annäherung

Stress

Jetzt war es an Agnes, verächtlich zu schnaufen. „Ich stresse hier niemanden, das bist du. Lesben können ja machen, was sie wollen, aber ich finde, es ist nicht der richtige Weg. Ich will damit nicht in Verbindung stehen, okay? Und jetzt bin ich vom Wettbewerb ausgeschlossen, und wenn meine Mutter davon Wind kriegt, gibt’s ne Reihe supertoller Gespräche. Also sag mir nicht, dass ich stressen soll!“ Sie war ein bisschen außer Atem geraten, aber so ganz ohne ihre Freunde und Verehrer um sich herum wirkte Noemi auf einmal so klein, wie sie war, oder noch kleiner. Sie erwiderte nichts, sondern nickte einfach nur zustimmend.

Berührung

Agnes schnappte sich ihre Wasserflasche und wollte den Raum verlassen, als Noemi sie an der Hand hielt. „Glaub mir, ich wollte das nicht,“ flehte sie.
„Es ist aber passiert.“ Kurze Pause. Die beiden Mädchen schwiegen sich an, und irgendwie wurde Agnes verlegen. Sie wurde knallrot im Gesicht.
„Du… findest das vielleicht nicht schlimm. Aber ich kann das nicht mit Humor nehmen. Echt nicht. Also bitte, stell das klar. Wirklich,“ bat sie sie. Noemi nickte. Etwas widerwillig, aber sie nickte.
„Ich versuchs mal. Aber du solltest mitkommen. Der Breitner glaubt mir eh nichts. Was hat er eigentlich zu dir gesagt?“

Verlegenheit

Agnes zuckte mit den Schultern. „Er war begeistert von meinen früheren Essays. Dann hat sein Handy geklingelt, er sah drauf, und hat gelächelt. Dann meinte er, der Wettbewerb würde wohl bei mir nicht an erster Stelle stehen, und hat mir das Bild gezeigt,“ beendete sie ihren kurzen Bericht.
Wieder schwiegen beide. Plötzlich zog Noemi ruckartig ihre Hand zurück, mit der sie die ganze Zeit Agnes festgehalten hatte.
„Sorry. Der ist eh ’n Arsch.“ Sie sah von ihrer Bank schüchtern nach oben und lächelte vorsichtig. Agnes lächelte zurück. „Wahrscheinlich, ja.“
Dann klingelte es zerriss die Stille.
Verlegen kratzte Noemi sich am Kopf und stand auf. „Sollen wir nach unten gehen?“ fragte sie, immer noch etwas rot im Gesicht. „Ziehst du dich nicht um,“ erwiderte Agnes und Noemi sah zu Boden.
„Oh. Doch, natürlich,“ brummte sie.
„Ich geh schon mal vor“, verkündete Agnes und verschwand durch die Tür.
Noemi blieb verwirrt zurück. Sie verstand sich nicht. Agnes war nichts Besonderes. Sie war nicht hübsch, nicht besonders toll, und nicht so sehr nett. Trotzdem hatte sie Herzklopfen. Sie setzte sich wieder, und stand erst auf, als am Ende der Stunde die anderen kamen, um sich wieder umzuziehen.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 12

Kapitel 11: Entschuldigung?!

Schuhe kaufen

Kai ließ sich auch den ganzen Tag nicht erweichen, seine Meinung zu ändern. „Du hast ihr ganz schön was eingbrockt. Wenn du kein Problem damit hast, dass deine Mutter denkt du seist lesbisch, dann ist das eine Sache, aber Agnes sieht das vielleicht anders.“ Er hatte sich nach beiden Seiten umgesehen und dann erstickt geflüstert: „Ihre Mutter ist total katholisch, ein Bekannter von mir leistet seine Sozialstunden in der Obdachlosenbetreung ab, und die arbeitet da, mit dem Pfarrer zusammen!“
Verschwörerisch hatte Noemi gegrinst. „Na, Katholiken machen doch Einen auf Verständnis. Da tut so n bisschen moderne Action doch ganz gut, oder?“
Aber Kai hatte den Kopf geschüttelt und sich abgewendet.
Jetzt saß sie hier, und wusste weder aus noch ein. Niemand sah sich nach ihr um. Und sie wusste, was sie tun musste: Schuhe kaufen.

Auslandsaufenthalt

Sie sah auf ihren Stundenplan. Sport. War eh nicht so ihr Fach, also räusperte sie sich, stellt all ihre Glieder auf „Leid“ ein, und schlurfte ins Sekreteriat. „Kann ich bitte nach Hause? Meine Mama ist aber nicht da, sie ist… im Ausland. Nicht erreichbar,“ fügte sie schnell hinzu. Die Sekretärin sah streng über ihre Brille. „So sehr im Ausland wie letzte Woche? Schöne Grüße, sie ist zurück und war auf dem Markt einkaufen, Liebes,“ sagte sie ausdruckslos. „Bitte, es ist wichtig!“ Noemi setzte alles auf eine Karte. „Und es ist doch nur Sport… sie können das doch sicher verstehen, sie haben doch bestimmt auch nicht gerne Sport gemacht…“ Sie machte ganz große Augen und schlug die Wimpern so sehr, dass die Sekretärin nicht widerstehen konnte. Es entstand eine fürchterliche Pause, in der es so eisig still wurde, dass Noemi Gänsehaut bekam. „Ich war Ringerin,“ knurrte die Sekretärin. „Und ich halte nichts vom Sport Schwänzen, also mach jetzt, dass du hier rauskommst, sonst hole ich deinen Klassenlehrer,“ drohte sie. Und Noemi verschwand. Was blieb ihr auch anderes übig? Mussten die Schuhe halt warten, war ja nur eine Stunde.

Umkleide

Agnes war noch immer schlecht, als sie sich in der Kabine umzog. Es roch muffig und nach Schweiß und Deo, und ihr wurde richtig schwindelig davon. „Völkerball! Wer ist gegen Völkerball?“ rief Noemi, als sie den Raum betrat. Aber anders als sonst scharten sich nicht sofort alle um sie, was sie eben so zu verblüffen schien wie Agnes.
„Nur, weil du einmal im Leben hier auftauchst? Vergiss es, wir haben jetzt Selbstverteidigung und dabei bleibts auch, okay? Find dich damit ab,“ fauchte ein Agnes unbekanntes Mädchen, kräftig unterstützt von Silvias heftigem Nicken.
Noemi setzte sich hin und seufzte. Und so saß sie auch noch, als alle außer den beiden bereits in der Halle waren.
Agnes wollte etwas sagen, aber irgendwas hielt sie davon ab. Sie hatte Angst, dass Noemi sie wieder so anfauchen würde.
„Ey, tut mir leid,“ brummte Noemi schließlich, der die Stille auch unangenehm war. „War ein Versehen. Echt,“ beteuerte sie, aber Agnes fragender Blick ließ sie schon vermuten, dass diese ihr nicht glaubte.
„Ich hab seine Nummer jetzt auch gelöscht. Ich hatte sie, weil wir ihn mal bei so ’ner Homo-Singleseite angemeldet haben, Kai hat ihn abgelenkt, und ich hab sein Handy geklaut und damit meins angeklingelt. Und ihn unter „Arsch“ eingespeichert. War dämlich. Merk‘ ich selbst,“ sie spielte mit der gerüschten Krempe ihres Rockes.
Ich will nicht, dass du Stress machst deswegen, okay?“ fragte sie. Eigentlich war es keine Frage, sondern mehr eine Aufforderung.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 11

Kapitel 11: Ups

Zu Weit

„Du hast was?“ Kai begann zu husten und räusperte sich, während er gequält „Vollidiot!“ heraus zischte. „Ja, ich hätte ihn unter „Wichser“ speichern sollen, nicht unter „Arsch“, dann wär das nicht passiert… ich hab nun mal keine Freunde mit „A“, die Anne heißen oder Andrea oder so…“ Noemis Stimme versagte, während sie nach weiteren Rechtfertigungen suchte. „Na ja, vielleicht erkennt man die Gesichter ja nicht… oder mein Gesicht. Was auch immer…“
Kai sah sie ausdruckslos an. „Du bringst das wieder in Ordnung. Irgendwann hört es auf. Agnes ist neu, und du machst sie fertig,“ sagte Kai und erhob gespielt ernst seinen Zeigefinger. „Das möchte ich nicht noch einmal sehen, Fräulein,“ grinste er.
Noemi schluchzte theatralisch. „Vielleicht guckt er es ja nicht an,“ und still flehte sie zum Himmel. „Wenn da oben wirklich einer ist, dann bitte zerstör sein Handy. Und gib meiner Mutter einen Mann, der viel Geld hat. Und mir gib nur das Geld, bitte!“
Keiner hatte Agnes bemerkt, die still auf ihren Platz in der Ecke geschlichen war. Sie war noch etwas blasser als sonst.

Schlecht

„Gehts dir nicht gut?“ schmatzte Silvia.
Agnes sah hoch. Ihr war wieder schlecht. Sehr schlecht. Weil sie nervös war. „Geht schon,“ lächelte sie vorsichtig. „Mir ist nur schwindelig.“
Herr Dr. Breitner betrat die Klasse. „Noemi, ich habe noch nicht mit Ihnen gesprochen. Aber ich denke, Sie stimmen mir zu, wenn ich das Bild an Ihre Mutter weiterreiche. Sie sollte wissen, wie Ihre Tochter versucht, an Ihre Noten zu kommen,“ und sein Lächeln war so genugtuend wie schon lange nicht mehr.
Noemi wurde blass, und Agnes lief aus der Klasse und übergab sich in einen der Blumenkasten auf dem Gang.
Das wars. Sie würde sich auf eine Reihe nicht sehr angenehmer Gespräche einstellen müssen. Ihre Mutter würde sie hassen. Und der Pfarrer… schon musste sie wieder würgen, als sie an die Gespräche mit ihm dachte, die folgen würden.

Noemi löschte wütend das Bild. Das war echt unfair. Immer waren alle gegen sie. Als Herr Breitner die Klasse wieder verlassen hatte, schluchzte sie los. Aber niemand kam zu ihr. Sogar Kai schüttelte den Kopf. „Du bist zu weit gegangen, echt jetzt,“ sagte er.
Und ihr „Aber es war ein Versehen!“ hörte er nicht mehr, denn die Musik seiner Band drang auf voller Lautstärke aus seinem Kopfhörer.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 10

Kapitel 10: Verwicklung

Gemein

Agnes setzte sich auf ihren Platz. Noemi betrat die Klasse und ignorierte sie, seufzte bloß und zog wie auf Knopfdruck die Aufmerksamkeit auf sich.
„Agnes, willst du dich nicht zu uns setzen? Gleich ist eh Gruppenarbeit angesagt, dann kann ich dir schonmal zeigen, was wir gemacht haben,“ schlug Silvia vor, und hielt ihr eine halb geschmolzene Schokoladentafel hin. „Auch was?“ Agnes schüttelte den Kopf und raffte ihre Sachen zusammen. „Ist neben dir Platz?“ fragte sie, stand auf und wollte sich gerade setzen, da sprang Noemi auf und besetzte den Stuhl. „Nee, hier sitz ich jetzt,“ verkündete sie. „Du kannst auf meinen Platz!“
Agnes drehte sich um und setzte sich auf Noemis alten Platz.
„Aber mach nichts dreckig, sonst wein ich!“ Dann drehte sie sich herum und Agnes saß wieder allein, diesmal noch eine Reihe weiter hinten.

Plan

„Was sollte das?“ raunte Kai. „Sie hat dir doch nichts getan,“ und er nickte in Agnes Richtung. „Du bist ein richtiges Ekel heute..“
Noemi schwieg betreten. Sie hatte sie nicht ausschließen wollen. Aber das zugeben… da wäre ja ihr Ansehen zerstört. Also musste sie weitermachen. Agnes weinte nicht und sah nicht traurig aus. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht neben Silvia gewollt.
„Ach ja, Noemi? Du musst zu Herrn Dr. Breitner. Agnes übrigens auch,“ ereiferte sich Silvia. Er war eben hier, und hat dich in der Pause wohl nicht gefunden, weil er -!“
„Ja, weshalb wohl? Denk mal nach, der hasst mich, da versteck ich mich lieber!“ Dumme Kuh. Die hatte kein Gehirn, die hatte Schokolade. Und Schokolade kann nunmal nicht mitdenken.
„Dann geh ich mal besser,“ und sie stand auf und verließ den Klassenraum. Zwei Sekunden später hüpfte sie zurück, sah sich um und lief zu Agnes. „Du auch. Jetzt komm. Wenn du da bist, schreit er sicher nicht.“
Es war ein bombensicherer Plan. Der Breitner würde so begeistert von Agnes sein, dass er Noemi darüber vergaß. Sie war ja so genial… niemand konnte ihr das Wasser reichen.

Auf dem Weg eine Erpressung

Agnes lief still neben Noemi her, die ihrerseits, die Hände in den Taschen ihrer (Agnes vermutete, dass es eigentlich Kais war) Jacke vergraben, und wippte von einem Schritt in den Nächsten.
„War nicht so gemeint, okay? Ich will nicht, dass du das dem Breitner petzt,“ brummte sie. Agnes schüttelte mit dem Kopf. „Ich petz schon nicht. Hab ich nicht nötig,“ meinte sie gleichgültig. „Ich will den Wettbewerb eh nicht mitmachen, weißt du..“
„… du MUSST! Schlechte Nachrichten bringen ihn bloß in schlechte Stimmung, und dann… muss ich darunter leiden, weil er mich nicht mag, obwohl ich mir nichts zu Schulden lassen gekommen haben… wollen….“ Noemi schniefte.
„Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen? Hmm… ist er echt so unfair?“
„Klugscheißer. Mein Satz war besser,“ erklärte Noemi trotzig. Sie blieb abrupt stehen. „Es geht los. Wehe, du sagst ein falsches Wort!“ warnte Noemi sie.
Agnes lachte. „Und wieso sollte ich mir von dir sagen lassen, was ich zu tun habe?“
„Gib mir mal deine Hand,“ orderte Noemi, und drückte auf ihrem Handy herum. Agnes streckte die Hand aus, und ehe sie es sich versah, hatte sie Noemis (die einen besonders erregten Ausdruck auf ihr Gsesicht gezaubert hatte) Brust in der Hand. Es klickte. „Weil ich das sonst allen Menschen in dieser Schule zeige. Und ich stells bei Schülervz rein, kapiert?“
Noemi schubste sie. „Jetzt geh schon rein, los!“
Agnes klopfte und betrat Herrn Dr. Breitners Büro. Ihre Wangen waren feuerrot und ihr Herz klopfte. Was fiel Noemi eigentlich ein?

Versehen

Noemi betete. Sie tat das nicht oft, aber vielleicht half es ja. „Bitte, mach, dass Agnes das macht, was ich will…“ Und dann drückte sie versehentlich auf „Senden“. Und im Büro von Herrn Dr. Breitner klingelte ein Handy.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 9

Kapitel 9: Brief

Pause

Agnes beobachtete Noemi schon den ganzen Tag. Sie sah wirklich niedergeschlagen aus, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Sie war sich nicht sicher, ob das nur ein Trick war, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber wenn, dann hatte er funktioniert. Agnes konnte ihren Blick ohnehin nicht von den vielen Rüschen und ihren lackierten Fingernägeln abwenden.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken, und es fiel ihr ein, dass sie ihrem Vater hatte schreiben wollen. Sie suchte sich ihren Füller mit der schwarzen Tinte aus dem Mäppchen und verließ den Klassenraum, um sich in der Pause in die Sonne zu setzen.

Brief an Papa

Lieber Papa, schrieb sie, wie geht es dir? Ich weiß, dass ich mich lange nicht mehr gemeldet habe, aber… tut mir leid! Der Umzug hat mich ziemlich geschafft, wir sind schon wieder umgezogen. Bald hab ich keine Lust mehr… ich würde viel lieber zu dir in unser altes Haus zurückziehen, aber das geht wohl nicht. Vielleicht hat auch deine neue Tochter schon mein Zimmer in Beschlag genommen, und deine neue Frau wohnt mit dir im Schlafzimmer. Aber ich hoffe, dass du mich noch nicht vergessen hast! Ich denke jedenfalls sehr oft an dich.

Meine Mutter dreht total ab, seit wir weg sind. Ich glaube, sie vermisst dich auch. Sie hat es sicher nicht so gemeint, als ihr gestritten habt. Ich glaube, sie hätte dich gerne zurück. Aber… ich weiß, das geht nicht, was geschehen ist, ist geschehen. Hast du nachgesehen, wann ich dich mal besuchen kann? Ich würde mich freuen.
Die neue Schule ist eigentlich ganz okay, aber ich glaube nicht, dass ich meine Klasse mag. Die sind alle irgendwie komisch, vor allem ein Mädchen, das Noemi heißt. Sie trägt schwarz-pinke Rüschenröckchen und benimmt sich wie eins von diesen Comicmädchen aus Japan. Sie sieht auch ein bisschen wie eins von ihnen aus.
Meld dich doch mal. Meine Handynummer hast du ja!
Ich hab dich lieb!
Agnes.

Wie ein Tiger

Sie setzte ab, und wie auf die Minute genau ertönte der Schulgong, der den Beginn der nächsten Stunde ankündigte. Auf dem Weg ins Gebäude lief sie nur zwei Meter hinter Noemi her, die mit hängenden Gliedern die Treppen hochstapfte.
„Hast du was?“ fragte Agnes und schloss mit ihr auf.
„Nein,“ fauchte Noemi und zuckte mit den Schultern. „Spiel nicht den gütigen Sanitäter, okay?“
„Den barmherzigen Samariter? Wollte ich doch gar nicht,“ entschuldigte Agnes sich schnell.
„Dann tu es auch nicht, Klugscheißer. Du bist neu, dann benimm dich auch so. Sei leise und warte auf deinen Einsatz.“

Agnes blieb verblüfft stehen. Sie hätte nicht gedacht, dass jemand so gemein wäre zu ihr, nur, weil sie nett sein wollte.

Hinter der nächsten Ecke blieb Noemi stehen. Sie war eigentlich wütend auf sich selbst. Und dann hatte sie auf einmal dieses neue Mädchen angeschrien. Sie wollte sich entschuldigen, aber als sie um die Ecke linste, war sie weg. Vielleicht war es ja bei ihr nicht so angekommen. War ja auch nicht so gemeint. Noemi war nett. Eigentlich. Total nett. Und liebenswert. Konnte sie ja nichts dafür, dass alle so gemein zu ihr waren.


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Grelles Pink trifft schwarzes Grau – Kapitel 8

Kapitel 8: Die Hölle bricht los

Theater

Noemi seufzte. Sie seufzte noch einmal und hielt nach Kai Ausschau, der wie immer auf sich warten ließ.
Ihr Tag war schon gelaufen, bevor er überhaupt begonnen hatte. Ihr Lehrer würde sie vor der ganzen Klasse bloßstellen, und das einzige, was ihren Tag retten würde, wäre, wenn aus seiner dicken, ekelhaften Warze eine kleine Larve schlüpfen würde. Das war aber sehr unwahrscheinlich, und deshalb dachte sie schon jetzt nach, wie sie am besten für immer verschwinden konnte.

Ihrer Mutter würde sie einfach einen Zettel mir den Worten „Komme gleich wieder! Gruß, Tochter.“ hinterlassen, das würde sie locker zwei, drei Jahre beschäftigen, bis sie merkte, dass Noemi weg war.
Kai würde sie vielleicht ab und zu ein paar Ansichtskarten aus der ganzen Welt schicken, damit er sich keine Sorgen machte.
Die Freunde vom Cosplay würden auch erst merken, dass sie nicht mehr da war, wenn ihnen keiner mehr die Kleidung nähte, und in der Schule… na ja, die wäre doch wirklich langweilig ohne sie.
Sie konnte ja fast nicht zulassen, dass ihre Schulkameraden verrotteten, und, bei der Vorstellung, an ihrem Tod durch exzessive Langeweile schuldig zu sein, kamen ihr tatsächlich die Tränen.

„Noemi? Weinst du etwa?“ Seine Stimme klang besorgt, aber auch ein wenig belustigt. Er hatte wahrscheinlich an ihrem Gesichtsausdruck bemerkt, dass sie in ihren Visionen einer tristen und düsteren Zukunft aufgegangen war.
„Ach Kai!“ Sie warf sich theatralisch an seine Brust und schluchzte lautstark.
„Ist wohl nicht gut gelaufen gestern, oder?“ fragte er vorsichtig, und ein heftiger Schluchzer verriet, dass Noemi sich zum wiederholten Male aufgegeben hatte.
„Heißt das, ich kriege jetzt Postkarten aus allen Ländern der Welt?“ schmunzelte er, und ein Grunzen, das wohl eigentlich ein mit Nasehochziehen kombiniertes, weiteres Schluchzen war, löste in ihm ein klein wenig Mitleid aus.
„Komm, erzähl erstmal, was passiert ist,“ ermunterte er die schluchzende Noemi. „Vielleicht können wir es ja noch retten?“

Kontakt zu anderen

Agnes hatte die Szene vom Klassenfenster aus beobachtet. Sie konnte nicht hören, was Noemi sagte, aber sie weinte. Es musste etwas sehr schlimmes passiert sein.
„Mach dir keine Sorgen,“ lachte ein pummeliges Mädchen hinter ihr. Es trug eine Brille mit breitem Gestell und blauen Lidschatten. „Sie weint öfter mal. Sie will bloß Aufmerksamkeit,“ erklärte es. „Ich bin übrigens Silvia,“ stellte sie sich vor. „Stellvertretende Klassensprecherin und Vorsitzende des Organisationsvereins der Oberstufe,“ fügte sie gewichtig hinzu.

„Hallo, ich bin Agnes.“ Sie war erleichtert, das jemand mit ihr sprach. Nach einem weiteren, mitleidigen Blick auf die inzwischen am Boden zusammengekauerte Noemi wendete sie den Blick ab und setzte sich auf ihren Platz. Sie nahm ihr Deutschheft heraus und ging in Gedanken nochmal die Gedichte durch, die sie gelernt hatte. Lyrik war eines ihrer favorisierten Fächer; darin konnte man aufgehen und sich richtig wohlfühlen, und manchmal fand man sich sogar wieder in dem ein oder anderen Gedicht.

Herr Dr. Breitner, der außer Philosophie auch deutsch unterrichtete, betrat die Klasse. „Agnes Wendt, ich würde Sie gerne sprechen nach der Stunde. Alle anderen: Bücher aufschlagen, lesen, ruhig sein. Wen ich was höre, der kann schreiben, was er gerade sagen wollte. Bis zum Ende der Stunde,“ und mit diesen Worten ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. „Kinder, ich hatte eine böse Nacht. Bitte verschont mich heute mit euren Mätzchen,“ und auf die Sekunde genau passend stand die verheulte Noemi in der Tür.

Durchschaut

Noemis Atem stockte. Er war nie pünktlich. Niemals. Wieso heute? Sie hatte sich ganz still in eine Ecke setzen wollen, erst recht, nachdem auch Kai ihr bestätigt hatte, dass sie ganz schön tief in der Sch…Tinte saß.
„Ah, wen haben wir denn da… Kai Ahrgonn, zu spät, nachsitzen, morgen nach der Schule. Noemi Berens, nachsitzen, ab morgen bis zum Ende des Schuljahrs… und sagen Sie jetzt nicht, dass sei ungerecht. Sonst werde ich Ihre Mutter anrufen. Die Echte,“ fügte er hinzu und sah sie scharf an.
So blass war sie noch nie gewesen. Sie zitterte. Sie hatte noch nie Ärger gehabt, nicht so richtig. Und wenn ihre Mutter davon etwas mitbekäme… dann wäre zu Hause wohl die Hölle los.

„Kai, kann ich noch ein bisschen länger bei dir wohnen?“ flüsterte sie, doch bevor Kai antworten konnte, platzte ihrem Lehrer endgültig der Kragen und er begann sie anzuschreien, womit er die gesamte Stunde, mit wenigen Unterbrechungen um sich zu räuspern oder einen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu trinken, nicht mehr aufhören würde.


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