Fortsetzungsgeschichte
Noemi Berens lebt ihr Leben, wie sie es möchte. In der
Schule schläft sie, nachts probt sie mir ihrer Band und am Wochenende treibt sie sich auf Festivals herum. Ihre Mutter ist verzweifelt, aber Noemi mag ihr Leben. Sie ist beliebt, hat immer Spaß und will später nicht studieren.
Dann kommt Agnes Wendt neu in die Klasse, die mit ihrem
streng katholischen Glauben nicht auf Gegenliebe trifft.
Kapitel 17: Auf dem Weg zum Arzt
Zu Fuß?
„Nein, Mama. Nein, habe ich nicht, Mama. Ja. Okay. Ich warte einfach hier“, Agnes legte auf. Anscheinend war es ein neuer Volkssport, sie als eine absolut miese Kinderhüterin darzustellen, wenn man dem alten Mann, ihrer Mutter und den Kommentaren des werten Herrn Ex-Pfarrers aus dem Hintergrund Glauben schenken wollte.
Martin weinte wieder, nachdem Agnes ihn durch das Gespräch mit ihrer Mutter daran erinnert hatte, wie weh er sich getan hatte.
Ihre Mutter würde bestimmt eine halbe Stunde brauchen, ehe sie hier sein könnte, und bis dahin war Martin wahrscheinlich vor Schmerzen gestorben. Oder eingeschlafen, denn schwimmen, und das seit beinahe einer Stunde anhaltende Wimmern mussten für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Sie wusste selbst, dass es ihrem Bruder gegenüber nicht fair war, aber in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er einfach still wäre.
Allein würde Agnes bis zum Arzt zehn Minuten laufen. Und selbst mit Martin auf dem Arm wäre sie schneller als ihre Mutter. Sie tippte schnell eine SMS, lud sich ihren Rucksack auf den Rücken, zog Martin seinen an und nahm ihn hoch.
„Komm, wir gehen zu Fuß“, seufzte sie. Er war ganz schön schwer. Und gab sich nicht die geringste Mühe, sich an ihr festzuhalten. Im Gegenteil, er wollte am liebsten einfach sitzen bleiben, und machte sich dahingehend auch lautstark bemerkbar. Nach einer Busstation gab Agnes auf. Mit dem Rucksack konnte sie ihn nicht vernünftig halten. „Wir warten jetzt auf den nächsten Bus“, ordnete sie an. Martin quittierte das mit einem weiteren, lauten Weinen.
Schlechtes Gewissen
Noemi hörte Martin schon lange, bevor sie die beiden an der Bushaltestelle sitzen sah. Nachdem ihr klar war, dass sie für Schuhe weder Geld noch die nötige Ruhe besaß, war sie zur Schule zurückgegangen, aber von Kai war dort keine Spur mehr zu finden. Und da sie ihren Schlüssel zu seiner Wohnung (von dem er nichts wusste) heute morgen liegen gelassen hatte, tigerte sie nun durch die Stadt, auf der Suche nach jemandem, der ihr Unterschlupf gewähren könnte.
„Hallo, Agnes“, grüßte sie beiläufig und ging so unbeteiligt wie möglich an der Bushaltestelle vorbei. Ja, sie war nicht nett gewesen. Und außerdem ging ihr diese Begegnung in der Umkleide nicht aus dem Kopf. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie Agnes echt so verletzt hatte.
Agnes antwortete nicht. Was bildete sich diese blöde Ziege eigentlich ein? Noemi hatte doch ganz klar „Hallo“ gesagt, konnte man da nicht erwarten, eine Antwort zu bekommen?
Gerade wollte sie einen flapsigen Kommentar geben, als Martin von Neuem laut zu heulen begann. „Du hast ja eine ganz schöne Ausdauer“, Noemi ging in die Knie. Martin sah sie mit großen, verheulten Augen an. Für einen Augenblick schien ihn das schwarz geschminkte Mädchen tatsächlich zu beruhigen. Aber dann… erinnerte er sich wieder an seine schrecklichen Schmerzen.
„Tut mir leid“, sagte Agnes. Noemi musterte sie. „Du siehst ganz schön fertig aus“, urteilte sie. „Kann dich niemand abholen?“
Agnes verneinte. „Hm.“
Noemi setzte sich auf den verbliebenen Sitz. Und schwieg.
Und Agnes schwieg auch.
Sogar Martin hatte aufgehört zu weinen.
‚Los, sag was‘, rief eine Stimme in Noemis Kopf. Das war ihr schlechtes Gewissen, das sie in die Knie zwang, bis sie ihren kleinen Fauxpas mit dem Foto wieder ausgebügelt hatte.
‚Mach schon‘, rief sie immer wieder, die dumme Stimme. ‚So schlimm kann’s nicht sein! Und wahrscheinlich will sie deine Hilfe ja gar nicht!‘
Noemi seufzte. „Kann ich… dir irgendwie helfen?“, spulte sie eine Höflichkeitsfloskel ab und warf ihrem schlechten Gewissen einen vorwurfsvollen Blick zu.
Agnes sah sie verblüfft an. Sie hatte ja mit vielem gerechnet. Mit einer schadenfrohen Bemerkung, mit einer grinsenden, selbstzufriedenen Noemi, die in den nächsten Bus stieg. Aber nicht mit sowas.
„Ja, schon“, und sie sah Noemi dankbar an, „du könntest meinen Rucksack nehmen. Der Arzt ist nicht weit weg, und wenn nachher kann Martin sicher abgeholt werden“, erklärte sie.
Noemi lächelte sie an. ‚Bist du jetzt zufrieden?‘, fluchte sie in Gedanken. Und – ja. Irgendwie war sie genau das. Zufrieden.
Das Team von gorizi.de bedankt sich ganz herzlich bei Honigfee für die schöne Geschichte.
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